Meinung

Nachdenken über Deutschland, Europa und die Welt: Dr. Hauke Ritz mit halbkonspirativem Vortrag

Nachdenken über Deutschland, Europa und die Welt: Dr. Hauke Ritz mit halbkonspirativem Vortrag

Quelle: RT © Anton GentzenDr. Hauke Ritz bei seinem Vortrags am 27. März 2023 in Berlin

Von Anton Gentzen

Dr. Hauke Ritz ist langjährigen Lesern von RT bekannt durch eine elfteilige Exklusiv-Artikelreihe mit dem Titel “Die Logik des neuen Kalten Krieges” im Jahr 2016. Schon damals hatte sich der Kulturwissenschaftler und promovierte Philosoph der Frage gewidmet, warum es nach dem hoffnungsvollen Start in ein gesamteuropäisches Friedensprojekt 1989 zum Rückfall in die russisch-US-amerikanische Konfrontation hatte kommen können und warum Europa gegen die eigenen Interessen den USA so bereitwillig in den neuen Kalten Krieg gefolgt war. Später veröffentlichte Ritz zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot das Buch “Endspiel Europa”, die beiden stellten es in einem zweiteiligen Interview auf den NachDenkSeiten vor, RT berichtete. Im Januar gab er dem Journalisten Flavio von Witzleben ein größeres Interview, auch darüber hatte RT berichtet.

Es ist ein ungemütlicher Abend in Berlin. Es nieselt, stürmt, und kurzzeitig hagelt es gar. Deutsche Bahn und S-Bahn streiken, die BVG fährt. Größtenteils. An einem konspirativen Ort im Westberliner Villenvorort sammelt sich in der Dämmerung allen Widrigkeiten zum Trotz ein handverlesenes Publikum: 100, vielleicht 120 Frauen und Männer, denen man ansieht, dass sie schon in den 80ern dies- und jenseits der Mauer für den Frieden gekämpft hatten. Einladungen werden per E-Mail verschickt oder per Hand weitergereicht. Ob man in den 80ern den Vortrag eines promovierten Denkers auch so hatte abschirmen müssen? Vielleicht in Ostberlin, nicht aber an der Freien Uni, die hier ganz in der Nähe ist und sich bis vor Kurzem dafür gerühmt hatte, kritischen Geistern und subversiven Ideen freien Raum zu geben.

Nach Medienkampagne: Vorführung von Alina-Lipp-Dokus in Pankower "Brotfabrik" abgesagt

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Nach Medienkampagne: Vorführung von Alina-Lipp-Dokus in Pankower “Brotfabrik” abgesagt

Die fast konspirative Vorsicht hat einen Grund: Es ist keine zwei Wochen her, dass eine Veranstaltung mit Dr. Hauke Ritz nach einer für unsere Zeit typischen medialen Shitstorm-Kampagne abgesagt werden musste, RT berichtete. Freies Denken und ungehindertes Reden für kritische Geister? Nicht im “woken” und regierungstreuen Berlin unserer Tage.

Immerhin, nach der skandalösen Absage der Filmvorführung mit Ritz in der Pankower “Brotfabrik” hagelte es auch Solidarität und Raumangebote, wie die Vorsitzende des Organisatorenkreises zu Beginn der heutigen Veranstaltung berichtet. Eines dieser Raumangebote hat man angenommen und sitzt nun hier im Kreise Gleichgesinnter.

Dann betritt Ritz das Podium. Die Thesen seines Vortrags sind eine Fortentwicklung dessen, was er schon im RT-Elfteiler des Jahres 2016 formuliert hatte. Der Zug ist nun dort angekommen, wohin die Reise damals schon gegangen war. Dass Russland als Erstes losschlagen würde, kam für ihn überraschend, nicht aber der Krieg selbst. Darauf lief alles hinaus, ruft der Vortragende uin Erinnerung.

Nun befinde man sich in einer Eskalationsspirale, die allmählich außer Kontrolle gerät. Die Eskalation hat ihre eigene Logik, und für diejenigen, die sie bislang vorangetrieben haben, gibt es kein Ausbrechen. Wie soll etwa Bundeskanzler Olaf Scholz, der einen Sieg der Ukraine als alternativlosen Ausgang des Krieges verkündet hat, wie soll eine Ursula von der Leyen, die die russische Wirtschaft vernichten will, von ihren Maximalposition zurückweichen und Kompromisse eingehen können? Und zur deutschen Außenministerin habe er gar nichts mehr zu sagen, erklärt Ritz und bekommt dafür seinen zweiten Applaus an diesem Abend.

"Deutschland ist Kriegspartei!" – Dr. Hauke Ritz im Interview

"Deutschland ist Kriegspartei!" – Dr. Hauke Ritz im Interview

“Deutschland ist Kriegspartei!” – Dr. Hauke Ritz im Interview

Die Unterbrechung der Eskalationsspirale könne nur, fährt er fort, aus der Gesellschaft kommen. Wenn Bürger demonstrierten und massenweise ihren Abgeordneten schrieben, gäbe es noch eine Chance, den absehbaren nuklearen Höhepunkt der Eskalation abzuwenden. Und die nukleare Phase sei bereits erreicht: mit der Lieferung von Munition mit abgereichertem Uran an die Ukraine, mit der Stationierung russischer Atomwaffen in Weißrussland.

Um zu verstehen, wie ein erlösender Kompromiss aussehen kann, müsse man sich um Einsicht in die Kerninteressen der anderen Seite bemühen. Warum nehmen die Konfliktparteien – und hier gibt es keinen Zweifel, dass es Russland einerseits und der von den USA geführte Westen andererseits sind – so absolute, so unnachgiebige Positionen ein? Die Antwort von Ritz:

“Für beide Seiten geht es um die Existenz.”

Hier muss ich zum ersten Mal an diesem Abend stutzen. Ja, für Russland geht es tatsächlich um die Existenz. Der Westen sagt bereits offen, was seine Pläne für russisches Land und russisches Volk sind: teilen, zerreiben und schließlich als Nation tilgen. Doch für die USA? Unterliegen sie in diesem Konflikt, bedeutet dies die Rückkehr zur Existenz als ein “normales” Volk, als Gleicher unter Gleichen. Es ist da also der Verlust von Privilegien und unnatürlicher Macht, vielleicht auch von Wohlstand, der eintreten wird. Leben von der eigenen Hände Arbeit und den (gigantischen) Ressourcen des eigenen Landes wäre die Folge. Existenziell würde ich dies nicht nennen.

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Keine Frage: Ein Mafiaboss wird auch um seine Macht und die Möglichkeit, zu rauben und Schutzgelder zu kassieren, so kämpfen, als ginge es um seine Existenz.

Warum aber schießen sich die USA ausgerechnet auf Russland so ein? Ritz meint, das liege daran, dass sich sämtliche Schwächen der unipolaren Weltordnung aus der Existenz dieses Riesenlandes ergeben. Die Weltherrschaft eines imperialen Hegemonen ruhe stets auf fünf Standbeinen, so der Kulturwissenschaftler und Philosoph: seiner militärischen Macht, seiner geografischen Lage, der Kontrolle über Rohstoffe, der wirtschaftlichen Dominanz und seiner kulturellen Attraktivität (auch “soft power” genannt). In keinem dieser Punkte haben die USA bis heute ein ausreichend festes, problemloses Standbein, und stets ist es Russland, das der Erlangung absoluter Stärke entgegensteht.

Militärisch sind die USA gezwungen, die Projektion ihrer Macht auch auf Drittländer zu mäßigen, solange Russland über ein ungebrochenes Zweitschlagspotenzial verfügt. Dank ihres Nuklearschildes können die USA theoretisch jedes andere Land der Welt – auch eines mit einem kleineren Arsenal an Nuklearsprengköpfen – atomar angreifen, ohne einen Vergeltungsschlag fürchten zu müssen: Die meisten Waffen des Gegners würden bei dem entwaffnenden Erstschlag vernichtet, mit dem Rest würde die Luftabwehr fertig. Theoretisch ermöglicht es dies den USA, andere Länder nuklear zu erpressen. Die einzige Ausnahme hiervon war die Sowjetunion, die über ein riesiges, den USA ebenbürtiges Arsenal verfügte und deshalb in allen Szenarien genug Raketen und Sprengköpfe für den Zweitschlag aufbringen würde, um den USA unzumutbaren Schaden zuzufügen. Russland als Haupterbe sowjetischer Militärmacht hatte anfänglich dieselben Fähigkeiten.

Das in den 90er-Jahren vorherrschende Kalkül, Russland werde sein nukleares Arsenal infolge wirtschaftlicher Schwäche verlieren, indem es schlicht veraltet, verrottet und nicht erneuert wird, ist nicht aufgegangen: Russland hat unter Wladimir Putin das sowjetische Arsenal erhalten, modernisiert und altersbedingt Ausfallendes teilweise ersetzt. Nicht nur Russland selbst, auch Drittländer können sich nuklearer US-Erpressung deshalb mit Erfolg entziehen: Solange zwei Länder ein großes Atomwaffenarsenal haben, gibt es kein US-Gewaltmonopol auf dem Planeten.

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Geografisch krankt das US-Imperium daran, dass es fernab Eurasiens liegt, das in jeder Hinsicht Schwer- und Mittelpunkt der menschlichen Zivilisation ist (zwei Drittel der Bevölkerung leben hier, auch sind zwei Drittel der Ressourcen hier konzentriert). Es kann Eurasien nur an seinen Küsten (und über seinen europäischen Brückenkopf) kontrollieren. Russland hingegen liegt quasi mittendrin.

Warum Russland mit seinen Reichtümern einem Ressourcenmonopol des Imperiums entgegensteht, liegt auf der Hand, weniger jedoch warum es eine Gefahr für die US-Soft-Power ist, die angesichts von Hollywood, McDonald’s und Google so überwältigt. Ritz dazu: Anders als China ist Russland (wie die USA) selbst Teil und Erbe der europäisch geprägten Weltkultur. Mit diesem “Bein in der Tür” sei es auch (von den Europäern selbst abgesehen, die allerdings vor dem kulturellen US-Dominanz längst kapituliert hätten) der Einzige, der eine Gegeninterpretation des europäischen kulturellen Erbes vornehmen und das amerikanische Monopol herausfordern könne.

Je weiter der Redner mit der Aufzählung seiner Punkte voranschreitet, desto mehr leuchtet es jedem im Saal ein: Der Zusammenprall der USA und Russlands war unvermeidbar und folgt der unerbittlichen Logik eines herausgeforderten Imperiums. Doch eine Frage kann auch er nicht beantworten und stellt sie beinahe erschüttert in den Raum: Warum folgen die Europäer dieser ihren objektiven Interessen zuwiderlaufenden Logik? Warum haben sie die Idee der europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural (und des darauf aufbauenden Weltfriedens von San Francisco bis Wladiwostok, von San Francisco aus Richtung Osten gesehen) widerstandslos aufgegeben? Warum entwickelten europäische Thinktanks keine auf europäischen Interessen beruhenden Analysen und Konzepte?

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Ein Zwischenrufer ist in diesem Punkt klüger als Herr Doktor: Waren es nicht Europäer, die Kolonialismus und Imperialismus erfunden und patentiert haben? Ja, waren sie! Und die Russophobie und den Faschismus, möchte man ergänzen. Dieser tief verwurzelte Geist, dem sie nicht entrinnen können (er ist keineswegs überwunden, wie Ritz in der Replik meinte), hat sie daran gehindert, die zur gleichberechtigten Partnerschaft ausgestreckte Hand Russlands zu ergreifen. Statt der Unsicherheit, auf das russische Wort angewiesen zu sein, wählten sie den ihnen vertrauten Weg der Unterwerfung, des Raubs und der Plünderung. Und stehen nun plötzlich – anders als die USA, sollte die Eroberung russischer Ressourcen misslingen – tatsächlich vor einem existenziellen Problem. Das aber kann nur ein materialistisch denkender, kein idealistischer Philosoph wie Ritz erkennen.

Gibt es einen Ausweg? Nun, da gibt es noch die Großzügigkeit der russischen Seele. Die ist paradoxerweise auch eine Idealistin. Auf die Knie gehen und um Vergebung bitten, das würde helfen.

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