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Wenn man Faschismus nicht versteht: Ein Soziologe über Hitler und die Autobahn

Wenn man Faschismus nicht versteht: Ein Soziologe über Hitler und die Autobahn

Quelle: www.globallookpress.com © Frank Hoermann/SVEN SIMONDie Autobahn A99 bei München wird erweitert, 7. Mai 2023

Von Dagmar Henn

“Die Autobahn war Hitlers Antwort auf die Krise der Männlichkeit”, erklärt der Soziologe und Historiker Conrad Kunze allen Ernstes heute in der Berliner Zeitung. Das war dann vermutlich in den Vereinigten Staaten genauso, schließlich wurden zu dieser Zeit nicht nur in Deutschland Autobahnen gebaut. Und als Historiker sollte Kunze eigentlich wissen, dass die Planungen für die Autobahnen längst abgeschlossen waren, ehe Hitler überhaupt von Hindenburg die Regierungsmacht geschenkt bekam.

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In Wirklichkeit hatte der Bau der Autobahnen nur sehr begrenzt etwas mit den Nazis, aber sehr viel mit der vorausgegangenen, in den USA ausgelösten Weltwirtschaftskrise zu tun, und lieferte sogar eine Grundlage für die spätere wirtschaftliche Erholung nach 1945. Warum? Weil die Produktion von Automobilen, die in den 1930ern zumindest in Deutschland noch ein Luxusgegenstand waren, nur dadurch so gigantisch explodieren konnte, weil es dafür auch die entsprechenden Straßen gab. Es ist heute schwer vorstellbar, aber damals waren asphaltierte Straßen gar nicht üblich. Die erste Autobahnstrecke, München-Garmisch, von der noch Teile erhalten sind, bestand aus Betonplatten. Straßen in Städten waren günstigenfalls gepflastert, nur höchst selten asphaltiert.

Mit einer angeblichen “Krise der Männlichkeit” hatte das rein gar nichts zu tun. Eher noch mit Kriegsvorbereitungen, weil Autobahnen dafür auch die Logistik erleichtern sollten. Auch deshalb erwachten bei Aufgeweckten unangenehme Erinnerungen, als nach der Annexion der DDR von der EU ein Programm zum Ausbau des deutschen Autobahnnetzes gen Osten gefördert wurde. Als ganz nebenbei die Brücken in allen EU-Staaten für Traglasten bis 60 Tonnen auszubauen waren, wurde dieses Unbehagen bestätigt – da ging es nämlich um die Traglastfähigkeit für NATO-Panzer.

Die Verbindung zwischen deutschem Nazifaschismus und deutschen Autobahnen ist – ganz im Gegensatz zum gerade in der Bundesrepublik gern gepflegten Mythos – eine eher indirekte durch die Verwurzelung beider in der Weltwirtschaftskrise. Die Nazis waren schlicht die geeignete Truppe, um die verarmte und von Massenarbeitslosigkeit geplagte Bevölkerung durch Arbeitsfront und Terror an der Rebellion zu hindern und so den nächsten großen Krieg vorzubereiten, nicht nur ideologisch, sondern vor allem ganz materiell.

Wer sich auf jene Ebene begibt, von der aus Kunze die deutsche Geschichte betrachtet, dem kann selbstverständlich nicht auffallen, dass beide Faktoren – die Unterdrückung möglicher Rebellion wie auch die mentale und materielle Vorbereitung auf einen Krieg – auch ganz ohne “Antworten auf die Krise der Männlichkeit” funktionieren, wenn es sein muss, auch transsexuell und klimaschonend.

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Nicht einmal der Gedanke mit dem Tempolimit hat eine reale Grundlage. Denn bis 1952 gab es in Deutschland eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 Kilometer pro Stunde, auch auf Autobahnen. Erst im Zuge des sogenannten “Wirtschaftswunders” (das nebenbei gesagt die Aura von “Freiheit und Abenteuer” deutlich stärker betonte) wurde diese Begrenzung im Westteil Deutschlands aufgehoben. Man würde also mit der Einführung eines Tempolimits die Autobahnen eher renazifizieren als entnazifizieren.

Allerdings hatte selbst diese Aufhebung des Tempolimits einen handfesten ökonomischen Hintergrund. Denn diese westliche Bundesrepublik beabsichtigte, zum ganz großen Hersteller von Kraftfahrzeugen aufzusteigen. Und dafür eignen sich Autobahnen ohne Tempolimit nun einmal besser für die praktische Testung neuer Fahrzeuge wie für deren Vermarktung mit den Verlockungen unbeschränkter Freiheit. Es ging um einen internationalen Wettbewerbsvorteil, der sich dann unter anderem in die Entwicklung leistungsstärkerer Motoren und besserer Federungen umsetzen ließ.

Solche schnöden materiellen Aspekte liegen Herrn Kunze allerdings ebenso fern wie der verdrängte Zusammenhang zwischen Weltwirtschaftskrise und Autobahnbau. Das soll nicht heißen, dass ideologische Zusammenhänge unergiebig sind. Eine Beschäftigung mit den Erziehungsvorstellungen der Nazis ist beispielsweise ausgesprochen spannend, wenn man herausfinden will, wie es möglich ist, dass heute so viele Teile dieser Ideologie wiedererweckt werden können, ohne als solche erkannt zu werden.

Aber auch dabei kommt man um die Betrachtung materieller Gegebenheiten nicht herum. Wenn heute eine Bundesaußenministerin Baerbock etwa meint, den Südafrikanern drohen zu können, oder ihre Äußerungen, Russen seien keine Europäer, in Deutschland ebenfalls unwidersprochen verbreitet werden, liegt das nicht nur an der unverzeihlichen Kontinuität in der Erziehung und einer kaltherzigen Tradition in Teilen des deutschen Bürgertums, sondern auch an einer kolonialistischen Weltanschauung, die solches Denken stets neu hervorbringt, weil sie stets ganz schnöde materiell die Welt in ausbeutende und auszubeutende Länder aufteilt.

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Hundert Tempolimits werden daran nichts ändern, und selbst wenn die Akteure alle Frauen wären, liefe derselbe falsche Film. Kunze ist zu jung, er kann sich gewiss nicht an die Gesichter der Angeklagten im Majdanek-Prozess erinnern, aber er könnte sie im Internet finden. Die weiblichen Mittäter der SS waren keinen Deut menschlicher als die männlichen.

Wenn er sich so gerne mit “Rauschangeboten” beschäftigen will, sollte er mal die propagandistischen Strategien emotionaler Überwältigung betrachten, die die Medien dominieren. Die Konsumenten werden mit Angstgefühlen oder Adrenalin zugeschüttet, dass es kein Morgen mehr gibt. Das galt für Corona ebenso, wie es jetzt für die Mobilmachung gegen Russland gilt, oder auch für das konsequente Ausrauben der verarmenden Bevölkerung mit der wahlweisen Begründung der “Klimarettung” oder einer Zeitenwende.

Aber vielleicht sollte er sich doch eher ein wenig mit Wirtschaftsgeschichte befassen. Dann würde ihm nämlich eventuell auffallen können, was die Zeit seit der Finanzmarktkrise 2008 mit der Zeit nach dem Börsenkrach 1929 gemein hat. Und wenn er dann noch danach suchen wollte, welches Angebot Hitler in dem Moment den deutschen Wirtschaftsmagnaten machte, was ihm schließlich zur Macht verhalf, könnte er die Rede vor dem Club der Industriellen in Düsseldorf finden und lesen. Dann wüsste er auch, dass man Faschismus nicht an Autobahnen erkennt, sondern vor allem an dem, was Mussolini Korporatismus nannte: an der innigen Verschmelzung von Konzerninteressen und Staat.

Womöglich sollte sich Kunze dann wieder einmal auf sein Motorrad setzen, dessen Gebrauch er fast schamhaft eingesteht. Denn auch mit den Männlichkeitsbildern ist das nicht ganz so simpel. Wie steht es denn mit den Rebellen und Revolutionären von Robin Hood bis Hecker und Che Guevara? Ist ein rebellischer Geist auch verwerflich? Ist Unterwürfigkeit das neue Ideal? Auch die Unterwürfigkeit gab es in der Naziversion im Übermaß, ich nenne nur Adolf Eichmann als Beispiel. Man kann die Aufnahmen aus seinem Prozess finden und mitansehen, wie ein weicher, nachgiebiger Buchhalter, der sicher eine Autobahn ohne Tempolimit für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit gehalten hätte, es doch zum millionenfachen Massenmörder brachte.

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Das Traurigste an der Geschichte des jungen Herrn Kunze ist, dass er wirklich einmal aufrecht stand und 2017 aus den Grünen austrat, weil diese schon damals mit den ukrainischen Nazis und der NATO buhlten. In seinem Text über die Ukraine von 2014 hat er sogar zu Recht geschrieben: “Von einem Handelskrieg mit Russland würden die USA im Gegensatz zu Deutschland profitieren, weil dann höchstwahrscheinlich die Gaspreise steigen und die USA ihr Fracking-Erdgas an die Europäer liefern könnten.”

Und heute? Heute hat er eine feste Stelle an der FU Berlin und beschäftigt sich nur noch mit erlaubten Dingen wie Klimaschutz und Tempolimits. Als Stimme gegen die NATO ist Kunze verstummt, obwohl sich sein Text von 2014 in vielen Punkten leider als prophetisch erwiesen hat. In einem Moment, in dem es darauf ankommt, ist offenbar die feste Anstellung wichtiger. Aber auch das ist kein Novum in der deutschen Geschichte.

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