Russland zieht sich aus Ostseeparlamentarierkonferenz zurück
Dennoch ist es erstaunlich, wie völlig kritiklos und ohne jeden Rückbezug mit der Realität die Aussagen baltischer Politiker genutzt werden, um die Stimmung in Deutschland noch weiter zu verschärfen. Kann man es wirklich ernst nehmen, wenn der litauische Präsident Nausėda erklärt, “wir werden Russland im Sinne Macrons erniedrigen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich”? Mit drei Millionen Einwohnern?
Natürlich, auf einer Seite der baltischen Geschichte, der, die dann auch die SS-Divisionen hervorbrachte, hat die Russophobie eine starke Tradition. Paul Rohrbach, der beträchtlich dazu beigetragen hatte, im wilhelminischen Deutschland eine gegen Russland gerichtete Stimmung zu verbreiten, war Deutschbalte; ebenso wie Alfred Rosenberg, dem die Welt die NS-Rassenideologie verdankt und der während des Zweiten Weltkriegs für die Betreuung all dieser Hilfstruppen zuständig war.
Als der Kalte Krieg zu Ende war und selbst Radio Free Europe in München abgewickelt wurde, schien es so, als sei die Zeit dieser Leute vorüber. Rund um München waren sie alle zu finden, die Ustascha-Kroaten, die Bandera-Ukrainer, die Exilbalten. Hätte man mich damals gefragt, ich wäre mir sicher gewesen, dass sich das biologisch löst und diese ganzen Hinterlassenschaften des braunen Spuks bald verschwunden sein werden. In Wirklichkeit geschah aber etwas völlig anderes. All diese Leute, die sich in der “Antibolschewistischen Liga der Nationen” gesammelt hatten, die man zwar für verknöcherte, bösartige Faschisten hielt, aber politisch ein Relikt, machten sich mit dem Ende der Sowjetunion auf, sich ihre Ursprungsländer zu unterwerfen. Die Ukrainerin Jaroslawa Stezko ist da nur ein Beispiel.
Und man muss zugeben, die deutsche Beteiligung an diesem Phänomen ist nicht gering. Es gab zwar noch andere Länder, die die geschlagenen NS-Hilfstruppen aufnahmen, die USA und Kanada beispielsweise (Stichwort Operation Paperclip), aber auch in Deutschland wurde ihnen immer Unterstützung in einer Art gewährt, die dafür sorgte, dass ihre Strukturen und ihre Ideologie weiterexistierten. Ihnen eine tragende Rolle in den ehemaligen sowjetischen Staaten zu ermöglichen, mag anfänglich reiner machttechnischer Opportunismus gewesen sein – man konnte die politische Kontrolle über Gebiete erringen, die zuvor Teil der Sowjetunion gewesen waren, und griff dafür schlicht zu jenen Truppen, die man hatte –, und es mag ebenso sein, dass die örtlich vorhandenen politischen Kräfte aus gleichermaßen opportunistischen Gründen kooperierten, weil es wie eine einfache Lösung für das Dilemma der geschichtlichen Erzählung schien; aber das Ergebnis ist fatal.
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Eine Generation später sind die im Grunde sowohl ahistorischen wie apolitischen, dafür vollkommen ethnisierten Erzählungen, die die Antibolschewistische Liga der Nationen in ihrem kleinen, geheimdienstfinanzierten Nazireservat vor sich hin spann, zum offiziellen Geschichtsbild diverser Länder geworden, und über diese auch nach Deutschland zurückgewandert, sodass deutsche Journalisten sich bei Nausėdas Ankündigung, Russland zu demütigen, nicht vor Lachen auf dem Boden wälzen, sondern sie nutzen, um der deutschen Politik noch die letzten Anwandlungen von Vernunft auszutreiben. Hätte man nicht jeden Blick auf die materiellen Grundlagen von Politik mit einem Tabu belegt, seien es ökonomische, seien es demografische oder infrastrukturelle, man würde den Balten schlicht entgegnen, dass jeder Kleinstaat auf diesem Planeten einen Weg finden muss, mit seinen großen Nachbarn gut auszukommen. Die Luxemburger stellen sich auch nicht hin und erklären, sie würden Deutschland demütigen, oder Frankreich, oder auch nur Belgien.
Die Rolle, die die Balten dabei spielen, lässt sich am besten so formulieren: “Halb zog sie ihn, halb sank er hin.” Denn völligen Unwillen, diesen so unsinnigen wie gefährlichen Forderungen nachzukommen, zeigt ja nicht einmal Olaf Scholz. Und so geht es weiter, Schritt für Schritt, Wahn um Wahn.
Nein, selbst wenn man um die ökonomischen Triebkräfte weiß, die hinter dem irrwitzigen Verhalten des Westens stehen; wenn man weiß, dass es eigentlich darum geht, ob die koloniale Ordnung weiterbesteht oder untergeht; selbst wenn man weiß, welche Mischung aus sorgfältiger sozialer Auslese und subtiler Bedrohung die Uniformität der Meinung in deutschen Redaktionsstuben sichert, und mit welchen Methoden dafür gesorgt wurde, dass die deutsche Politik von hirnlosen transatlantischen Sprechpuppen bevölkert wird; selbst wenn man weiß, welche Faktoren zu diesem bizarren NS-Revival von Kroatien bis Reval führten – es bleibt eine Mischung aus Irritation und Trauer. Dass sich alles, was in den Jahren ab 1989 geschah, als so durch und durch verhängnisvoll erweisen sollte. Man möchte nicht immer seinen schlimmsten Befürchtungen glauben müssen. Aber ein Reenactment des Zweiten Weltkriegs in dieser Größenordnung, das hatte wohl selbst der größte Pessimist damals nicht vor Augen.
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