Analyse
“Unangenehm für den kollektiven Westen”: In Russland sieht man die “Turbinen-Affäre” gelassen
Dr. Hahn trifft in seiner Analyse den Nagel auf den Kopf, wenn er schreibt, dass aus russischer Sicht eine solche Rumpfukraine nicht die nötige Sicherheit gegen ein Fortbestehen der Bedrohung durch die NATO böte. Denn die NATO würde sich in einem solchen Fall mit hoher Wahrscheinlichkeit bei den Neonazis in dieser Rumpfukraine einnisten.
Zugleich geht Dr. Hahn davon aus, dass Russland, egal wie die Rumpfukraine aussehen wird, Gefahr läuft, auf Jahre hinaus in der ganzen Ukraine Angriffen von Partisanen ausgesetzt zu sein. Während der Großteil von Dr. Hahns Analysen gut fundiert sind, kann der Autor dieser Zeilen dieser pauschalen Prognose nicht zustimmen. Zwar müsste Russland womöglich auf etliche Jahre mit terroristischen Angriffen im Westen der Ukraine rechnen, z. B. wenn dort die “Banderistan-Regionen”, also die rechtsextremen Hochburgen, ebenfalls besetzen würden. Dagegen existiert die Gefahr von Partisanen oder Terrorangriffen nicht oder nur zu einem geringen Maß in den anderen Teilen der Ukraine, die grob vier Fünftel des aktuellen ukrainischen Staatsgebietes ausmachen.
In den russischsprachigen Teilen der Ost- und Südukraine (z. B. in Mariupol) waren die russischen Soldaten vom Großteil der lokalen Bevölkerung als Befreier und Beschützer begrüßt worden. Das ist eine Garantie dafür, dass Neonazi-Terroristen sich in diesen Gebieten nicht wie Fische im Wasser in der Bevölkerung bewegen könnten, sondern sofort auffallen und gemeldet würden. Auch in den großen Weiten und eher menschenleeren und wenig bewaldeten Regionen der Zentralukraine hätte eine Neonazi-Terrorbewegung große Probleme, lange zu überleben.
Aber wie würde es aussehen, wenn die russische Armee ihre Operation zu Beginn des Winters am Ostufer des Dnjepr bis zum Frühling pausiert, die Selenskij-Regierung sich in Kiew eingeigelt hat und weiterhin ernsthafte Verhandlungen mit Russland ablehnt? Mit hoher Wahrscheinlichkeit würde ein Kleinkrieg mit Nadelstichen über den Dnjepr hinweg geführt werden. Militärische Formationen aus Nazi-Bataillonen, aber auch aus nationalistischen Kreisen der stark gerupften regulären ukrainischen Armee, die nicht die russische Gefangenschaft vorgezogen und sich stattdessen auf das Westufer zur Fortsetzung des Kampfes abgesetzt haben, werden wahrscheinlich mit großzügiger Hilfe westlicher Geheimdienste versuchen, russische Flugzeuge abzuschießen, Schiffe auf dem Dnjepr zu versenken und mit Raketen und weitreichender Artillerie russische Ziele bis zu 300 Kilometer östlich des Dnjepr zu vernichten.
Überhaupt wäre die endgültige Beendigung der russischen Militäroperation am Westufer des Dnjepr keine optimale Lösung für Russland. Eine Rumpfukraine vom Dnjepr bis Lwow im Westen wäre stattdessen eher die Verwirklichung eines Traums der westlichen Kriegstreiber und ihrer Nazi-Schützlinge: Die Nazis würden zu Freiheitskämpfern erklärt, Russland könnte mit viel weniger westlichem Finanzaufwand weiter militärisch auf Trab gehalten und zur Ader gelassen werden, und politisch könnte man die Sache so drehen, dass Moskau in der Rumpfukraine sein zweites “Afghanistan” erlebt.
Richtig gefährlich für Russland und den Rest der Welt aber könnte es werden, wenn Moskau im Frühling des nächsten Jahres seine militärische Spezialoperation in der Ukraine wiederaufnähme, sich den Weg nach “Banderistan” freikämpfte und die Brutstätte des ukrainischen Faschismus unter Kriegsrecht und russische Besatzungsverwaltung stellte. Dann müssten die Neonazi-Terroristen nicht erst den Dnjepr überwinden, um ihre russischen Opfer zu finden. Zugleich könnten sie sich wie “Fische im Wasser” bewegen. Leicht vorstellbar ist ein makabrer Wettbewerb, den sich konkurrierende Neonazi-Terrorgruppen liefern könnten, wer die meisten oder die schlimmsten Anschläge gegen russische Truppen, ihre zivilen Verwaltungsbehörden und ihre lokalen zivilen Helfer vorweisen kann.
Analyse
Nach dem Bruch mit dem Westen wird Russland erst recht eine neue Weltordnung mitgestalten
Wenn in dieser Situation der Westen offiziell oder verdeckt über Geheimdienste die Terroristen mit Geld, Waffen, Terrorausbildung und Angriffsplänen unterstützt, erhöht sich laut Dr. Hahn die Gefahr eines direkten Zusammenstoßes zwischen Russland und der NATO stark. Leicht vorstellbar ist auch, dass ukrainische Neonazi-Terroristen z. B. bei ihren polnischen Freunden auf polnischem Territorium auf der anderen Seite der Grenze einen “sicheren Hafen” bekämen, wo sie sich vom Kampf ausruhen und medizinisch behandeln lassen könnten, bevor sie für neue Angriffe gegen russische Ziele zurück in die Ukraine gingen.
Wenn nun Russland – in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht – solche Gruppen bis auf polnisches Territorium verfolgte oder einen “sicheren Hafen” der Terroristen auf polnischem Boden vernichtete und dabei womöglich noch polnische Terrorhelfer tötete, dann wäre das zwar noch kein Fall für den NATO-Artikel 5, den NATO-Beistandsartikel, aber viele Kriegstreiber und ihre Freunde in den Medien würden alles tun, um mit einen solchen Vorfall vor der Öffentlichkeit den NATO-Eintritt in den Krieg gegen Russland zu fordern und zu rechtfertigen.
Dieses enorme Gefahrenpotenzial hat Dr. Hahn zwar nicht direkt, aber dennoch implizit angesprochen, als er in seinem Artikel zum Schluss daran erinnerte, dass es sich bei dem Krieg in der Ukraine nicht um einen Stellvertreterkrieg zwischen den USA bzw. der NATO und Russland handelt!
In diesem Krieg gebe es, so Dr. Hahn, “nur einen Stellvertreter, nämlich die Ukraine”. Die wird für die NATO ins Feuer geschickt, während Russland direkt und ohne Stellvertreter getroffen wird. Daher, unterstreicht Dr. Hahn, sei es jetzt
“für die westliche Diplomatie höchste Zeit, vor allem für die US-Politik in den höchsten Gang zu schalten und bereit zu sein, die notwendigen Kompromisse mit Moskau einzugehen, sonst wird die Ukraine höchstwahrscheinlich als unabhängiger Staat von der Weltbühne verschwinden, und ein größerer Russland-NATO-Krieg wird zu einer unmittelbaren Perspektive, ein Krieg, der nicht nur Europa und Russland, sondern auch die Welt mit einem nuklearen Flächenbrand bedroht”.
Die Dringlichkeit der Lage unterstreicht Dr. Hahn mit folgenden Worten:
“Jeder weitere Tag, an dem Washington sich weigert, einen Kanal zu Putin zu öffnen und Kiew zu Verhandlungen zu drängen, bedeutet mehr Tod und Zerstörung für beide Seiten, eine globale wirtschaftliche Katastrophe und das Risiko eines viel größeren Krieges.”
Letztlich muss aber auch Dr. Hahn einräumen, dass die Aussichten für ein Entgegenkommen des Westens für eine diplomatische Konfliktlösung “nicht gut sind”. Der Grund dafür sei, dass
“für den Westen die NATO-Erweiterung zu einem Muss geworden ist, und zwar auf der Ebene einer existenziellen Grundbedingung. Denn in den Köpfen der westlichen Führer hängt der Erhalt der Hegemonie des Westens vom Prestige der NATO und ihrer fortgesetzten Erweiterung ab, die getrieben wird von mächtigen wirtschaftlichen und politischen Interessen verschiedener Staaten, vor allem der krisengeschüttelten und zerfallenden Vereinigten Staaten”.
Meinung
Versuch einer Prognose: Wo wird die russische Armee in der Ukraine stoppen?
Aber auch der Kreml hat laut Dr. Hahn große Probleme, mit den USA bzw. den NATO-Staaten einen Verhandlungsfrieden auszuarbeiten. Denn den Russen fehle einfach “das Vertrauen in die Zusagen und in die hochheiligen Verpflichtungen”, die die USA feierlich eingehen, nur um sie bei passender Gelegenheit arrogant zu ignorieren.
Die jüngste Enthüllung des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko, dass Kiew Minsk II nur deshalb unterzeichnet habe, um Zeit zu gewinnen für den acht Jahre dauernden Aufbau, Bewaffnung und Ausbildung des ukrainischen Militärs durch die NATO, um die Krim und den Donbass zurückzuerobern, habe “in Moskau nur den Sinn für die unehrenhaften und charakterlosen” Politriegen der “westlichen Wertegemeinschaft” geschärft. Laut Dr. Hahn “vertraut Moskau dem Westen weniger, als der Westen Moskau vertraut, und das sagt etwas aus”.
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