Meinung Als Georgien beschließt, ausländische Agenten unter Kontrolle zu bringen, gerät es an den Abgrund
Wer heizte die Proteste an?
Während der anschließenden Diskussionen beschuldigten die Opposition und die Medien die Partei “Georgischer Traum”, prorussische Ansichten zu vertreten und brandmarkten den Gesetzentwurf als “russisches Putin-Gesetz”. Auch der frühere Vorsitzende der Regierungspartei, Bidsina Iwanischwili, der sich 2021 aus der Politik zurückzog, aber immer noch als informeller Herrscher Georgiens gilt, entging der Kritik nicht.
“Meiner Meinung nach ging es bei der Partei ‘Georgischer Traum’ immer um Selbsterhalt. Mit anderen Worten, ihr Hauptziel war es, an der Macht zu bleiben. Auf der anderen Seite ist Iwanischwili wirklich prorussisch in dem Sinne, dass er mit Russland sympathisiert, seine Mentalität ist russisch und er versteht Russland. Der Westen, westliche Werte und westliches Denken sind ihm fremd und unverständlich. In dieser Hinsicht ist er nicht nur prorussisch –, er ist ein russischer Mensch”, sagte der Politologe Ghia Nodia in einem Interview mit georgischen Medien. Einige Demonstranten stimmten dieser Ansicht zu. Ani, ein lokaler Immobilienmakler, äußerte die Meinung, dass die derzeitige Führung Georgiens “autoritär” sei und einen “schädlichen prorussischen Kurs” verfolge.
Insgesamt 63 georgische Medienorganisationen und NGOs bildeten eine Koalition mit der Opposition und nannten das neue Gesetz “antidemokratisch und verfassungswidrig”. Laut prowestlichen sozialen Bewegungen und Parteien schadet die bloße Diskussion über den Gesetzentwurf “der europäischen Perspektive Georgiens”, da es das Land daran hindert, zwei Empfehlungen der Europäischen Kommission umzusetzen, die erforderlich sind, um den Status eines EU-Beitrittskandidaten zu erlangen. Laut Paragraf 7 muss Georgien “aktivere Anstrengungen unternehmen, um ein freies, professionelles, pluralistisches und unabhängiges Medienumfeld zu gewährleisten”. Darüber hinaus impliziert Absatz 10, dass die georgische Regierung “die Beteiligung der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen” sicherstellen muss. Tatsächlich warnten die USA und die EU die georgischen Behörden, dass die erfolgreiche Verabschiedung des Gesetzes dem Land die Möglichkeit nehmen würde, den Status des EU-Beitrittskandidaten zu erlangen und der NATO beizutreten.
Eine der ranghöchsten Unterstützer der Demonstranten war die georgische Staatspräsidentin Salome Surabischwili. “Ich wende mich heute Abend an alle, die sich in der Rustaveli Chaussee aufhalten, wo ich selbst oft stand. Heute bin ich in New York, und die Freiheitsstatue steht direkt hinter mir. Sie ist ein Symbol dafür, wofür Georgien immer gekämpft hat, für das, was wir bisher erreicht haben. Ich bin mit euch, weil ihr heute das freie Georgien vertretet”, sagte sie in einer Videoansprache. Präsidentin Surabischwili äußerte sich zuversichtlich, dass “niemand dieses Gesetz benötigt” und es “nach dem Diktat von Moskau geschrieben” wurde. “Dieses Gesetz ist ungültig, ich werde dagegen mein Veto einlegen”, fügte sie hinzu.
Russland bestreitet jede Beteiligung an den Ereignissen. Der Pressesprecher des Kremls, Dmitri Peskow, beteuerte, dass der Auslöser der öffentlichen Unruhen in Georgien “nichts mit der Russischen Föderation zu tun” habe. “Gleichzeitig sehen wir eine Hand in dieser Angelegenheit und die ist alles andere als ‘unsichtbar’. Wir konnten sehen, von wo aus die Präsidentin von Georgien ihr Volk ansprach. Sie sprach nicht in Georgien zu Georgiern, sie sprach ihr Volk aus den Vereinigten Staaten an. Und eine sichtbare Hand versucht ernsthaft, in Georgien antirussische Empfindungen zu injizieren”, sagte er.
Ein Mann schwenkt am 9. März 2023, eine georgische Nationalflagge vor einer brennenden Barrikade, während weitere Demonstranten unweit des georgischen Parlamentsgebäudes in Tiflis versammelt sind. AP Photo / Zurab Tsertsvadze / AP
Frieden oder Rebellion?
Nachdem vorläufige Informationen darüber aufgetaucht waren, dass der Gesetzentwurf zurückgezogen werden soll, beeilte sich der Vorsitzende von “Georgischer Traum”, Mamuka Mdinaradze, die Situation bei einer eiligst einberufenen Pressekonferenz zu klären. Er sprach über das Verfahren für den Rückzug des Gesetzentwurfs. Der in erster Lesung verabschiedete Gesetzentwurf zur “Transparenz bei ausländischer Einflussnahme” werde laut Mdinaradze in zweiter Lesung abgelehnt. Die zweite Version des Gesetzes über “die Registrierung ausländischer Agenten”, über die bisher noch nicht abgestimmt wurde, sei bereits vom Parlament zurückgezogen worden. Es wurde auch festgehalten, dass ein Schreiben an die Venedig-Kommission bezüglich der Rücknahme beider Gesetzentwürfe gesendet wurde.
“Wir sehen, dass das verabschiedete Gesetz zu Meinungsverschiedenheiten in der Gesellschaft geführt hat. Durch Lügen wurde der Gesetzentwurf in ein negatives Licht gerückt und ein Teil der Bevölkerung in die Irre geführt. Der Gesetzentwurf wurde fälschlicherweise als ‘russisches Gesetz’ bezeichnet und seine Verabschiedung in erster Lesung wurde öffentlich als Abweichung vom europäischen Kurs dargestellt”, erklärten die Parteien “Georgischer Traum” und “Macht des Volkes” in einer gemeinsamen Stellungnahme, bei der auch das anhaltende Engagement beider Parteien für “den Fortschritt Georgiens auf dem Weg der europäischen Integration” betont wurde.
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Die Entscheidung der Regierung zeigte Wirkung: Am Freitagnachmittag waren die Proteste vollständig abgeebbt, die Barrikaden im Zentrum von Tiflis abgebaut. Dies geschah jedoch nicht, bevor die Hauptstadt eine weitere Nacht der Proteste erleben musste, die von einer offen antirussischen Stimmung dominiert wurde. Die Proteste gingen am Donnerstag weiter, und die Opposition stellte noch radikalere Forderungen. Eine Gruppe georgischer Armeeveteranen forderte sogar den Rücktritt der Regierung und vorgezogene Parlamentswahlen.
“Diese Regierung ist nicht in der Lage, Georgien in die EU zu führen, diese Regierung lässt lediglich friedliche Menschen verprügeln. Diese Regierung sollte zurücktreten und vorgezogene Parlamentswahlen abhalten”, verkündete ein Mann in Tarnkleidung, der sich selbst als Armeeveteran bezeichnete.
Während der Proteste am Donnerstag wurde eine russische Flagge verbrannt, und man hörte einige Demonstranten Parolen skandieren, die eine Lösung der “Abchasien-Frage” forderten. Die Menge skandierte “Suchumi” als Parole – den georgischen Namen der Hauptstadt der teilweise anerkannten Republik Abchasien, in der russische Friedenstruppen stationiert sind – und forderte, dass das “Problem” mit der Region gelöst werde.
Es ist erwähnenswert, dass nicht alle Einheimischen die Ansichten der Demonstranten teilen. Einige Georgier, insbesondere diejenigen, die vom Tourismussektor leben, und russische Migranten, waren wesentlich weniger begeistert von den Ereignissen.
Irakly, ein Einwohner von Tiflis, fasste es so zusammen: “Es gibt einen Unterschied zwischen diesen Protesten und dem realen Leben. Vergangenes Jahr war alles gut. Der georgische Lari nahm gegenüber dem Dollar an Wert zu, es zirkulierte viel Geld. Das lag vor allem an den Russen und Ukrainern, die hier ankamen. Im Sommer gab es auch eine Rekordzahl an Touristen und Wohnraum war sehr gefragt. Die Leute haben sogar Objekte gemietet, die sie vorher nie genommen hätten. Wir hatten anständig Geld. Und jetzt? Mit diesem Gesetz, all diesen Protesten und Kundgebungen sieht es erneut ziemlich schlecht aus. Offenbar will jemand nicht, dass es bei uns gut läuft. Wer benötigte dieses Gesetz? Ich weiß nicht, was mit diesem Gesetz los ist, aber der Markt ist rückläufig. Der Markt auf Airbnb ist um 20 Prozent eingebrochen. Die Leute haben Angst und ziehen weiter. Wer braucht das alles?”
Aus dem Englischen
George Trenin ist ein russischer Journalist und Politikwissenschaftler.
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