Analyse Polen und seine baltischen Verbündeten könnten sich von den USA lossagen
Seine Spekulation darüber, welche Rolle die polnischen Wahlen Mitte Oktober beim jüngsten Säbelrasseln gespielt haben könnten, hat einige Berechtigungen, da es tatsächlich so ist, dass die polnische Regierungspartei die exorbitanten Militärausgaben Polens rechtfertigen muss und nationalistische Kräfte auf Basis antirussischer Stimmung mobilisieren will. Allerdings lässt sich auch nicht leugnen, dass die unerwartete Verlegung der Wagner-Gruppe nach Weißrussland, für Polen ebenfalls als Rechtfertigung für seine militärische Aufrüstung diente.
Im weiteren Verlauf ist es ein positives Zeichen, dass Lukaschenko es für angebracht hielt, erneut zu bekräftigen, dass er die objektiven Interessen seines Landes nicht zugunsten einer einseitigen Annäherung an Polen oder ein anderes westliches Land opfern wird. Seine Worte bestätigen auch, dass Warschau in der Vergangenheit unrealistische Forderungen an Minsk gestellt haben muss, wie viele bereits vermutet haben.
Die Wurzeln der polnischen Großstrategie
Lukaschenkos Andeutung, dass in Polen die USA die Fäden in der Hand halten, kann bestritten werden, da es wohl eher so ist, dass Polen, als aufstrebende regionale Macht, seine eigenen Interessen verfolgt, die mit jenen Washingtons übereinstimmen und somit unterstützt werden. Jede unbequeme Entwicklung einer Einmischung durch die USA zuzuschreiben, ist eine ebenso simple und ungenaue Einschätzung, wie jene Einschätzungen in den USA, bei denen Russland eine Einmischung zugeschrieben wird.
Polen strebt die Wiederherstellung seines vor langer Zeit verloren gegangenen Status als regionale Großmacht an – eine postmoderne Wiederbelebung des ehemaligen Staatenbunds aus Polen und Litauen, jetzt zusätzlich mit der Ukraine als militärischem Kern und der “Drei-Meere-Initiative” als breitere regionale Wirtschaftsform. Dieses große strategische Ziel könnte zunichtegemacht werden oder unter deutsche Kontrolle geraten, wenn die von Berlin bevorzugte Opposition die Regierungspartei bei den Wahlen im Herbst von der Macht verdrängt. Somit ist es für Beobachter wichtig, die Tatsache nicht aus den Augen zu verlieren, dass es sich hier um eine polnische Strategie und nicht um eine Strategie der USA handelt.
Diese Strategie hat ihre Wurzeln im Großprojekt des damaligen polnischen Ministerpräsidenten Józef Piłsudski, dem Intermarium, und in der Politik des Prometheismus der Zwischenkriegszeit, die darauf abzielte, die Region unter polnischer Hegemonie zu einen und gleichzeitig die damalige UdSSR zu balkanisieren. Nachdem der Zweite Weltkrieg dazu geführt hatte, dass Polen seine östlichen Regionen verlor, die heute in der Ukraine liegen, begann die polnische Führung nach Ende des Kalten Krieges darüber nachzudenken, wie Warschau seinen verlorenen Einfluss in dieser Region wiedererlangen könnte, wenn auch inoffiziell und in unpolitischer Form.
Mögliche Szenarien
Im schlimmsten Fall könnte gemeinsam mit Litauen eine faktische Blockade Kaliningrads erfolgen, unter dem Vorwand der Abwehr einer angeblichen Bedrohung durch die Wagner-Gruppe in Weißrussland. Zwar könnte diese Blockade vor oder nach den Wahlen eintreten, sie birgt jedoch Sabotagepotenzial für mögliche Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine.
Nervös wegen Wagner: Polen verstärkt Truppen an Grenze zu Weißrussland
Im besten Fall könnte es dazu kommen, dass Warschau seine maximalistischen Forderungen an Minsk zurücknimmt und ernsthaft eine Art Annäherung prüft, unabhängig von den Interessen der USA.
Um es ganz klar zu sagen: Beide Szenarien sind genau das, was sie sind – Szenarien. Keines der beiden kann als selbstverständlich betrachtet werden, vor allem nicht das zweite. Wenn wir aber auf das zweite Szenario eingehen, so geht es darum zu erklären, was Lukaschenko wahrscheinlich erreichen will. Die Wahrscheinlichkeit, dass es eintrifft, ist gering, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden.
Somit würde jede Bewegung in Richtung des zweiten Szenarios erfolgen, nachdem die polnische Führung bis dahin möglicherweise ihre nationalen Interessen neu konzipiert hat – und nicht aufgrund irgendeiner slawischen Solidarität, wie Lukaschenko es angedeutet hatte. Diese Aussage war wahrscheinlich für das heimische Publikum gedacht, da die meisten Polen, unabhängig von ihrer politischen Gesinnung, sich selbst und ihre Kultur als zwar etwas ähnlich, aber dennoch sehr unterschiedlich von der Kultur der Ostslawen betrachten.
Wenn man über das nachdenkt, was in dieser Analyse geschrieben wurde, so scheint es überzeugend zu sein, dass Lukaschenkos überraschender Vorschlag für eine weißrussisch-polnische Annäherung eines der Themen war, die er mit Präsident Putin bei ihrem letzten Treffen Ende Juli besprochen hat. Auch wenn ihre Erklärungen damals vor einer regionalen Bedrohung warnten, die von einer nicht provozierten und beispiellosen militärischen Aufrüstung Polens entlang seiner Ostgrenzen ausgeht, haben sie genau aus diesem Grund wahrscheinlich auch eine friedliche Lösung in Betracht gezogen.
Diese pragmatischen Absichten wurden jetzt öffentlich gemacht, um die Chancen zu nutzen, die sich aus dem rasanten Verfall der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine ergeben. Selenskij gilt in den Augen vieler Polen als Verbündeter Polens und Lukaschenko als Feind, doch nun könnten sich die Rollen vertauschen, nachdem der weißrussische Staatschef gerade einen Olivenzweig des Friedens angeboten hat. Im besten Fall könnte dies die öffentliche Wahrnehmung in Polen verändern und es Warschau ermöglichen, nach den Wahlen im Herbst, positiv darauf zu reagieren.
Übersetzt aus dem Englischen.
Andrew Korybko ist ein in Moskau ansässiger amerikanischer Politologe, der sich auf die US-Strategie in Afrika und Eurasien sowie auf Chinas Belt & Road-Initiative, Russlands geopolitischen Balanceakt und hybride Kriegsführung spezialisiert hat.
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