Meinung Die Ampel und ihr Arme-Familien-Verhöhnungspaket
Abgesehen davon, dass viele Leistungsbezieher nicht arbeitslos sind, sondern lediglich ihre niedrigen Einkommen aufstocken: Das Entfachen von Neiddebatten auf angebliche Faulpelze, die Geld fürs Nichtstun bekämen, gehört in Deutschland seit langem zum Repertoire politischer Propaganda, um Sozialabbau zu rechtfertigen.
Doch eines steht fest: Je niedriger die Grundsicherung ist, desto tiefer können Menschen bei Jobverlust abstürzen. Das fördert die Angst bei lohnabhängig Beschäftigten, minimiert ihre Gegenwehr, hebelt ihre rechtliche Stellung aus und befeuert einen Teufelskreislauf, der den Abstieg der Mittelschicht vorantreibt.
Mehr Niedriglohn durch Sozialkürzungen
Die Bürgergeld-Sätze sollen, sollte sich der von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verkündete Willen durchsetzen, kommendes Jahr um 12 Prozent steigen. Ein Alleinstehender bekäme dann 563 Euro pro Monat und dazu eine – von den Kommunen unterschiedlich begrenzte – Mietbeihilfe. Für Ehepartner und Kinder gibt es einen Teilbetrag in einer Höhe zwischen rund 60 und 80 Prozent. Kindergeld und andere staatliche Leistungen gelten als Einkommen und werden vollständig vom Bürgergeld abgezogen.
Besonders laut trommelt wie gewohnt das Boulevardblatt des Springerverlags, die Bild . Ungerecht sei es, “dass Nichtstun fast mehr Geld bringt, als zu schuften”, wettert das explizit für die “kleinen Leute” konzipierte Propagandaorgan, das für seine “Faulpelz”-Tiraden als Begleitmusik für jeglichen Sozialabbau bekannt ist.
Dass alle Bezieher von Bürgergeld, ehemals Hartz IV, den lieben langen Tag in der “Hängematte” lägen, ist ein seit Jahrzehnten von der Politik gefüttertes Märchen. Das kann schon wegen der Sanktionen nicht ganz stimmen. Mit diesen nämlich erpressen die Jobcenter von Betroffenen Gehorsam.
Wer immer als Bürgergeld-Bezieher ein schlecht bezahltes Jobangebot ablehnt oder nur einen Termin beim Amt vergisst, dem kürzt das Jobcenter für drei Monate die als Existenzminimum deklarierte Leistung – bis 2019 war dies sogar bis zu 100 Prozent möglich. Vor allem deshalb konnte der Niedriglohnsektor ab 2005 so massiv anwachsen. Der Staat hat die Armen mit der Androhung harter Strafen in selbigen getrieben.
Die Kürzung der Arbeitslosenunterstützung in Verbindung mit scharfen Repressionen im Jahr 2005 war also ein bewusst gewähltes Instrument, um jene Zustände – niedrige Löhne, schlechte Arbeitsbedingungen –, die heute viele Menschen zu Recht beklagen, erst zu verschärfen.
Mediale Dauerlüge: Arbeiten lohnt sich nicht
Das in diesem Zuge immer wieder aufgewärmte Märchen lautet: Arbeiten lohne sich wegen zu hohen Bürgergelds nicht mehr. Die Frage, die man sich dann stellen müsste, heißt: Wenn das tatsächlich so wäre, müssten dann nicht längst Massen von frustrierten Niedriglöhnern gekündigt haben? Es ist ja nicht so, dass jeder Lohnabhängige so ungeheuren Spaß an seinem prekären Job hat.
Weshalb das nicht passiert, liegt auf der Hand: Wer für Lohn arbeiten geht, hat eben doch stets etwas mehr Geld als ein Bürgergeld-Bezieher ohne Job. Wer zu wenig verdient, kann nämlich aufstocken und bekommt dann Freibeträge. Als einzige Einkommensart wird Erwerbslohn nicht vollständig mit dem Bürgergeld verrechnet.
Ein Beispiel: Ein alleinstehender Bürgergeld-Bezieher aus Leipzig ohne Arbeitseinkommen kann derzeit höchstens 903,63 Euro erhalten: 502 Euro Regelsatz plus 401,63 Euro als Maximalsatz für die Warmmiete. Nehmen wir an, seine Miete beträgt 400 Euro, dann bekäme er 902 Euro pro Monat.
Findet der Betreffende nun einen Teilzeitjob für 1.000 Euro netto pro Monat, so kann er aufstocken, obwohl sein Einkommen über dem reinen Bürgergeldsatz von 902 Euro liegt. Denn ihm steht per Gesetz ein Freibetrag von derzeit genau 328 Euro zu. Das Jobcenter berechnet ihm lediglich ein Erwerbseinkommen von 672 Euro monatlich. Er bekäme vom Amt also 230 Euro pro Monat dazu, hätte damit insgesamt 1.230 Euro zur Verfügung. Sein Einkommen ist also um 36 Prozent höher als ohne Arbeitsplatz.
Sozialabbau als Mittel für Lohndrückerei und Entrechtung
Man stelle sich vor, das Bürgergeld würde nicht erhöht, sondern auf 250 Euro halbiert und vielleicht die Miete nicht mehr übernommen. Zu glauben, alle Erwerbslosen damit in den Arbeitsmarkt zwingen zu können, ist eine Illusion.
Einerseits gibt es viele Gründe dafür, warum einige nicht auf dem Arbeitsmarkt klarkommen: Suchtprobleme, Überforderung im Privatleben durch Kinder oder pflegebedürftige Angehörige, aber auch fehlende Schul- und Ausbildung, mangelhafte Sprachkenntnisse, problematische Lebensläufe und etliches mehr.
Mit so einer Maßnahme würde vielmehr das schon jetzt sichtbar zunehmende Elend in deutschen Städten geradezu explodieren. Die Tafeln und Obdachloseneinrichtungen würden wohl überlaufen und zusammenbrechen, die Kriminalität auf ein nie dagewesenes Maß ansteigen. Die mühsam aufrechterhaltene Fassade des sozialen Friedens dürfte vollends in sich zusammenfallen.
Meinung Immer noch Hartz oder von der Ungleichheit der Armen
Auch den Beschäftigten ginge es viel stärker an den Kragen als ohnehin schon. Denn ein Arbeitnehmer, der nur zwischen Arbeit und totalem Elend wählen kann, traut sich wohl kaum, seinen Arbeitgeber um eine Lohnerhöhung zu ersuchen, geschweige denn zu streiken oder vor Gericht zu ziehen.
Die Konsequenz liegt auf der Hand: Der Niedriglohnsektor wüchse schneller als je zuvor im Nachkriegsdeutschland. Millionen Beschäftigte bis weit in die Mittelschicht hinein würden zunehmend rechtlos. Es drohten Bedingungen, die an den Manchesterkapitalismus des 19. Jahrhunderts erinnern. Damals gab es übrigens Arbeitshäuser. Wer als Erwerbsloser nicht verhungern wollte, konnte in solchen Massenunterkünften praktisch Sklavenarbeit für Suppe, Brot und ein Bett verrichten.
Konjunktur für alle mit mehr Sozialstaat
Andersherum könnte man sich vorstellen, das Bürgergeld würde auf 1.000 Euro angehoben, sodass alleinstehenden Betroffenen zusammen mit der Miete etwa 1.500 Euro zustünden. Natürlich, dann könnte erst einmal jeder Mindestlöhner ohne Gutverdiener in der Familie aufstocken. Das Geschrei in den Leitmedien kann sich jeder ausmalen: Hilfe, das sprenge aber den Sozialstaat!
Andersherum wird eher ein Schuh daraus: Die Politik wäre gezwungen, den Mindestlohn anzuheben. Die zahnlos gewordenen Gewerkschaften hätten eine bessere Verhandlungsposition und könnten effektiver auf höhere Tarifabschlüsse dringen. Insbesondere die unteren Einkommen würden nach und nach sehr spürbar steigen. Das würde den Steuertopf und somit die Sozialkassen füllen.
So stiege auch die Kaufkraft an und mit ihr die Rendite der Unternehmen. Investitionen würden sich wieder lohnen, die Rezession abflauen. Das käme letztendlich auch vielen kleinen und mittelständischen Unternehmen zugute, von denen derzeit viele straucheln. Denn wer mehr Geld in der Tasche hat, kann wieder mehr auf Qualität achten, statt nur auf den Preis schauen zu müssen.
Wenn dann der Staat zu alledem große Vermögen, Erbschaften und leistungslose Kapitaleinkünfte höher besteuern, die Waffenlieferungen in die Ukraine stoppen, Friedenspolitik statt NATO-Aufrüstung betreiben und in Sachen Energiepolitik wieder mit Russland verhandeln würde ‒ dann wäre vielleicht endlich genügend Geld vorhanden, um sozialen Verwerfungen vor ihrer Entstehung beizukommen und potenzielle Bürgergeld-Bezieher zu letztlich gut bezahlten Fachkräften auszubilden.
Das alles ist offensichtlich nicht gewollt, die Propagandisten haben weiterhin viel zu tun.
Und das verarmende Volk in den unteren und mittleren Rängen geht sich weiter gegenseitig ans sprichwörtliche Leder, anstatt sich zu überlegen, wie es gemeinsam seine Interessen vertreten könnte. Für die deutsche Elite und ihre Einflüsterer läuft so alles nach Plan.
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