Analyse Selenskijs letzte Chance: Wie Kiew den ukrainischen “Volkssturm” aufstellt
Jeder Krieg ist eine Frage der militärischen Wettkampfleistung. Aber in einem Zermürbungskrieg kommt es vor allem auf drei grundlegende Dinge an: die Größe, die produktive und technologische Kapazität und die Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft, die Stabilität des politischen Systems einschließlich seiner Popularität im wirklichen Leben und der Legitimität der Eliten, und, nicht zu vergessen, die Demografie.
Das Wall Street Journal stellt fest, dass Russlands Wirtschaft “zwar gebeutelt wurde, aber nicht in Trümmern liegt” (eine ziemliche Untertreibung, aber wir wollen nicht streiten), und dass sich das politische System auf eine “stabile” Unterstützung durch die Bevölkerung und Eliten stützt, die weder rebelliert haben noch desertierten.
Zumindest im Westen war dies schwieriger vorherzusagen. Nicht, weil Russland so schwer zu entschlüsseln wäre, sondern aufgrund westlicher Voreingenommenheit und Gruppendenken, oder, um es unverblümt zu sagen, Wunschdenken. Schon vor dem Krieg in der Ukraine im Februar 2022 haben westliche Politiker, Medien, Denkfabriken und sogar die Wissenschaft unrealistisch pessimistische Einschätzungen zu Russlands Wirtschaft und politischer Stabilität geäußert. Man betrachte als pars pro toto die westlichen Reaktionen auf den Wagner-Aufstand im Juni. Nicht wenige von ihnen sagten den baldigen Zusammenbruch Russlands in Anarchie und Bürgerkrieg oder zumindest eine große und dauerhafte Schwächung Russlands im In- und Ausland voraus. Doch nichts von alledem ist eingetreten.
Die Bedeutung dieses umfassenden, fast totalen Versagens bei der Analyse und Vorhersage liegt darin, wie typisch es war, denn es spiegelt eine vorherrschende Kultur der politisierten Schlampigkeit wider, die das westliche Denken über Russland beeinträchtigt. Eine Schlampigkeit, die umso erstaunlicher ist, als gerade Moskaus Gegner sie sich nicht leisten können, ohne sich selbst erheblich zu schaden.
Denn Selbstschädigung ist das Hauptergebnis. Es ist richtig, dass Russland einen Teil der Kosten für die westliche Kurzsichtigkeit zu tragen hat. Natürlich wäre auch Moskau besser dran, wenn es mit vernünftigen, wenn auch konkurrenzfähigen Partnern zusammenarbeiten könnte, anstatt mit irrational feindseligen Gegnern, die Russland ständig unterschätzen und sich selbst überschätzen. Doch der Westen leidet umso mehr unter dem Muster seiner sich wiederholenden Fehler.
Die Kosten des Stellvertreterkriegs in der Ukraine zeigen dies, und zwar nicht nur in Form von Waffen und Geld, sondern auch in Form von politischem Ansehen. Was die bezifferbaren Kosten angeht, so hat der US-Kongress beispielsweise seit Februar 2022 Hilfen für die Ukraine im Wert von 113 Milliarden Dollar bewilligt. Die Forderung nach einer noch höheren Summe bereitet der Regierung Biden derzeit großes innenpolitisches Kopfzerbrechen und bedeutet höchstwahrscheinlich eine Niederlage. Die EU hat bereits fast 85 Milliarden Euro aufgebracht.
Natürlich sind nicht alle diese Gelder wirklich angekommen, und ein Großteil davon hat in Wirklichkeit die Korruption in der Ukraine angeheizt oder den Gebern und vor allem ihrer Rüstungsindustrie gedient, wie US-Politiker wiederholt mit stolzem Zynismus festgestellt haben. Dennoch bleibt das Gesamtbild einer schwerwiegenden fiskalischen Überbeanspruchung in einem verlustreichen Spiel. Nimmt man noch die selbst verschuldeten Verluste hinzu, die vor allem die EU-Volkswirtschaften durch ihre falsch verstandene Sanktionspolitik erlitten haben, ergibt sich ein düsteres Bild. Wenn man dann noch bedenkt, wie viel der Westen ausgeben muss, wenn er den Wiederaufbau der Ukraine wirklich finanzieren will, werden die Aussichten katastrophal. Viel Glück der EU mit ihren Beitrittsplänen.
Keine Munition mehr – Schlechte Nachrichten für die Ukraine aus Brüssel
Darüber hinaus spielen auch immaterielle Faktoren eine Rolle. Der “Verlust” der Ukraine (die der Westen gar nicht erst versuchen hätte sollen, zu “besitzen”) wird die Schwäche des Blocks deutlicher offenbaren als die Misserfolge beispielsweise im Irak, in Libyen, Syrien oder Afghanistan. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist Russland im Gegensatz zu diesen Ländern eine Großmacht, d. h. es ist in der Lage, den Rückschlag des Westens auszunutzen. Moskau ist, anders ausgedrückt, groß genug, um geopolitisch zu kontern.
Ob oder wann genau es dies tun wird und welche Form ein solches erneutes “Zurückschnappen” des metaphorischen “Gummibandes” des russischen Präsidenten Wladimir Putin dieses Mal annehmen wird, bleibt abzuwarten. Klar ist jedoch, dass eine solche Vergeltung eine realistische Möglichkeit darstellt. Zweitens ist der Westen so engagiert wie nie zuvor, sowohl inhaltlich als auch rhetorisch, wenn er versucht, die Ukraine zu nutzen, um Russland zurückzudrängen. Daher zeigt ein Scheitern die Grenzen des Westens wie nie zuvor auf. Rumer und Weiss sind nicht naiv. Sie können es nicht aussprechen – und vielleicht können sie es nicht einmal denken –, aber in ihrem tiefsten Innern wissen sie, dass die Verpackung dieser Niederlage als bloßer Strategiewechsel zur “Eindämmung” niemanden täuschen wird, der sich nicht täuschen lassen will.
Es ist gut, dass endlich einige harte Fakten auffallend in den westlichen Mainstream-Debatten auftauchen. Aber das ist nicht genug. Zum einen muss sich der Westen schmerzhafte Fragen stellen, warum er so lange so zwanghaft einseitig geblieben ist. Andernfalls wird sich das gleiche Muster wiederholen, wenn es darum geht, den nächsten Krieg zu beginnen und zu führen, zum Beispiel gegen China oder den Iran. Zweitens wird eine Umstellung auf “Eindämmung” den Schaden nicht beheben, sondern ihn nur ausdehnen. Was der Westen wirklich braucht, ist ein völliges Überdenken nicht nur seiner Methoden, sondern auch seiner Ziele.
Übersetzt aus dem Englischen.
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar
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