Quelle: www.globallookpress.com © Christoph Soeder/dpa Leere Stühle in Nusa Dua auf Bali nach dem G20-Gipfel, 16. November 2022
Von Dr. Karin Kneissl
Es war ein Gipfeltreffen der hohen Erwartungen. Seit Monaten rätselten viele, ob es bei dieser Konferenz der zwanzig wichtigsten Industrie- und Schwellenländer zu einem Wendepunkt im aktuellen Patt kommen würde. Es sei vorausgeschickt: die Erwartungen gingen an der Realität vorbei. Die internationalen Beziehungen stecken in einer Sackgasse der Sprachlosigkeit fest. Die Hauptstädte reden aneinander vorbei. Treffen von 30 oder 40 Minuten reichen nicht aus, um Vertrauen herzustellen oder heiße Eisen ernsthaft zu lösen. Das gilt für das Treffen der Präsidenten Chinas und der USA ebenso wie für die vielen anderen sogenannten “Bilaterals”, also Termine von Regierungschefs jenseits des Plenums.
Zu viele an einem Tisch – die Inflation der Gipfel
Meinung Erneute üble Nachrichtenmanipulation in der Tagesschau
Die Gruppe der Zwanzig umfasst 19 Staaten und die EU, die sich 1999 zu einem losen Verbund zwecks Beratungen zusammenfanden. Auslöser war damals die Asienkrise 1996. Mit der Finanzkrise von 2007, die vom hochspekulativen US-Immobilienmarkt ausging, institutionalisierten sich die G20 Treffen zu einem neuen viel beachteten Forum. Denn China war zur Lokomotive der Weltwirtschaft geworden und hielt diese mit Investitionen in die Infrastruktur gleichsam am Laufen. Parallel dazu begannen die Wachstumsmärkte der frühen Nullerjahre, die BRICS – also Brasilien, Russland, Indien und China – ihre Zusammenarbeit zu vertiefen. Die Shanghai Cooperation Organisation SCO, die sich vor allem mit Energie- und Sicherheit befasst, konsolidierte sich eben und wurde für Staaten, wie die Türkei und den Iran, zunehmend attraktiver.
Das große Manko der G20 ist meines Erachtens die Zahl der Mitglieder. Es ist indes auch empirisch erwiesen, dass solide Gespräche und Entscheidungsfindung bei acht bis maximal zwölf Teilnehmern am Tisch möglich sind. Jeder von uns mag dies bereits in privaten Runden oder bei beruflichen Besprechungen erlebt haben. Ab einer bestimmten Zahl ist es nicht mehr möglich, auf einen gemeinsamen grünen Zweig zu kommen. Als junge Diplomatin Mitte der 1990er-Jahre erlebte ich die ersten EU-Beamtengruppen in der UNO. Die EU ist mit dem Beitritt der damals noch „Neutralen“, also Schweden, Finnland und Österreich, eben von 12 auf 15 Mitglieder herangewachsen. Mit klarer Vorsitzführung war es teils noch möglich, zu verhandeln. Aber mit 27 Teilnehmern an einer Runde, zudem auf Minister- oder Regierungschef Ebene, ist die EU bereits gelähmt. In solchen Foren geht kaum mehr etwas weiter.
Ähnlich verhält es sich mit den G20 Treffen, meines Erachtens sitzen zu viele Staatenvertreter mit zu unterschiedlichen Interessen an einem Tisch. Unter solchen Bedingungen lassen sich maximal “politische Signale senden”, wie es im aktuellen Jargon heißt. Aber die eigentlichen Aufgaben diplomatischer Zusammenkünfte, wie der Aufbau von Vertrauen, diskrete Verhandlungen und inhaltliche Lösungen, sind kaum möglich. Wir befinden uns ohnehin in einer Zeit der Inflation der Großkonferenzen und Gipfel. Wie ein Wanderzirkus bewegen sich die Treffen über den Globus. Man trifft sich zum regelmäßigen Stelldichein in Brüssel zwischen NATO und EU, die zunehmend zu einer NATO-Außenstelle wird, um dann bei diversen Klimakonferenzen, UNO-Versammlungen und Regionaltreffen einander wieder die Türklinke in die Hand zu drücken.
War es vielleicht diese Ernüchterung über die Sinnhaftigkeit solcher Treffen, die Putin dazu bewegte, diese Reise auf die Trauminsel Bali nicht anzutreten?
Rätseln über das Fernbleiben von Putin
Ex-US-Außenminister Pompeo: “Es liegt in unserem Interesse, Putin zu besiegen”
Die Entscheidung des russischen Präsidenten Wladimir Putin, einige Tage vor dem Gipfel die Einladung seines indonesischen Amtskollegen Joko Widodo doch nicht anzunehmen, sorgte für Tratsch und Klatsch unter den Anwesenden. Warum Putin sich entschloss, bloß via Videokonferenz mitzuwirken, mag viele Gründe haben. Ich würde nicht ausschließen, dass er nach 22 Jahren Arbeitserfahrung die Sinnhaftigkeit dieser Foren hinterfragt. Auch wenn Putin im Jahr 2013 selbst Gastgeber eines G20-Gipfels in St. Petersburg war, so ist zehn Jahre später die Sanktionsmaschinerie gegen Russland eine neue Situation. Zudem verhalten sich viele Amtsträger mehr wie hochemotionale Teenager denn wie Erwachsene. So will man nicht auf ein Foto mit bestimmten Leuten, verlässt demonstrativ den Plenarsaal, wenn Minister, die man nicht mag, das Wort ergreifen. Die Episode rund um eine mögliche Herzattacke des russischen Außenministers Sergej Lawrow auf Bali ist nur eine groteske Illustration des Zeitgeschehens. Aber Totgesagte leben auch meist länger.
Wie rational handelten noch die Souveräne jener untergegangenen Epoche des Wiener Kongresses, als die Gastgeber eine zusätzliche Tür für den Verhandlungssaal einbauen ließen, damit alle Teilnehmer zeitgleich den Raum betreten konnten und keiner protokollarisch benachteiligt wurde. Das war im Jahr 1814, nachdem Frankreich ganz Europa verwüstet hatte, die Tochter des Kaisers von den französischen Revolutionären enthauptet worden war – und dennoch verhandelte Charles de Talleyrand für das niedergeschlagene Frankreich auf Augenhöhe mit dem Zaren, dem Kaiser und den Souveränen von Preußen und England. Es war meines Erachtens das letzte Mal, dass die Gleichheit unter den Souveränen diplomatisch korrekt stattfand. Dieser historische Vergleich eignet sich nicht für unsere Epoche im 21. Jahrhundert, wenn Millionen Menschen in Echtzeit das Weltgeschehen kommentieren.
Die Bomben auf Polen
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Und so hielt man am Mittwochmorgen auf Bali auch kollektiv den Atem an, als die ersten Berichte über Raketeneinschläge in Polen gemeldet wurden. Sofort gingen viele soziale Netzwerke und Redaktionen, allen voran die englische und deutschsprachige Presse, mit Panikmeldungen gewissermaßen durch die Decke. Es bleibt kaum mehr Raum für Fakten, noch weniger Zeit ist für die Analyse und Reflexion vorhanden.
Waren es ukrainische Raketen? War Russland kausal? Wer gab den Schießbefehl? Wo liegt der Fehler in der Entscheidungskette – Fragen über Fragen.
Das G20-Treffen von Bali, das die indonesischen Gastgeber allem Druck zum Trotz in bester diplomatischer Tradition ausrichteten, wird für die nächsten Monate wohl eher als das Treffen der nächtlichen Krisenstäbe über Raketeneinschläge in Mitteleuropa in Erinnerung bleiben. Die großen Themen, wie Rezession, Inflation, Rolle des US-Dollars, Energieversorgungssicherheit und vieles mehr müssen warten. Wir leben in der Inflation der Gipfeltreffen – und der nächste Sondergipfel kommt bestimmt.
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