Lawrow: Russland greift zu “Ausgleichsmaßnahmen” wegen US-Atomwaffen
Das wichtigste Merkmal der WINTEX-Übungen, das auch für die aktuelle Diskussion über einen möglichen westlichen Atomwaffeneinsatz vor allem für die Europäer von Bedeutung ist, war, dass die US-Nuklearplaner, die für die WINTEX-Szenarien federführend waren, mit großer Sorgfalt stets sichergestellt hatten, dass keine NATO-Atomwaffen auf russisches Territorium fielen. Der Grund war, dass die Amerikaner genau wussten, dass es dann gemäß sowjetischer Nuklearwaffen-Einsatz-Doktrin russische Gegenschläge auf US-Territorium geben würde. Diesbezüglich hat sich in der aktuellen russischen Nuklearwaffen-Einsatz-Doktrin nichts geändert.
Diese Unterscheidung zwischen amerikanischem und NATO-europäischem Territorium in Bezug auf die Möglichkeit, Zielscheibe für russische nukleare Gegenschläge zu werden, wurde in den WINTEX-Szenarien jedoch vollkommen ausgeblendet. Das erklärt, warum es in den WINTEX-Übungen auch keine wahrscheinliche Reaktion der Sowjets auf die taktischen Atomwaffenangriffe der NATO gab. Sonst hätten sich die europäischen NATO-Partner ja mit den Folgen eines auf Europa beschränkten Atomkriegs auseinandersetzen müssen. Dieser Aspekt wird auch heute noch in Diskussionen über einen taktischen Nuklearwaffeneinsatz gegen Russen in der Ukraine entweder ausgeblendet oder mit dem Argument überspielt, dass aus einem taktischen Atomwaffeneinsatz zwangläufig ein strategischer Schlagabtausch folgen würde. Was beide Seiten vermeiden wollen, weshalb es gar nicht erst zu einem taktischen Atomwaffeneinsatz kommen wird.
Die US-amerikanischen Planungen zum Einsatz von Atomwaffen haben eine lange Tradition. Sie begann mit den inzwischen dokumentarisch belegten, völlig unnötigen US-Atombombenabwürfen gegen die Zivilbevölkerung von zwei japanischen Großstädten, Hiroshima und Nagasaki, 1945, die ohne jegliche militärische Bedeutung für die bevorstehende Niederlage Japans waren.
Wenig später, bereits unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Einbeziehung von Nuklearwaffeneinsätzen schon integraler Bestandteil der US-amerikanischen Kriegs- und Interventionspläne geworden, sowohl gegen die Sowjetunion als auch gegen kleinere Länder, die sich dem Willen der USA widersetzten.
Im Korea-Krieg forderte der legendäre General McArthur, chinesisches Militär und Städte mit Dutzenden von Atomwaffen anzugreifen. Der Oberkommandierende im Vietnamkrieg, General Westmoreland forderte ebenfalls den Einsatz von Atomwaffen, um den Vietkong zu besiegen. In beiden Fällen wurden die Generäle von einflussreichen politischen Persönlichkeiten unterstützt, aber zum Glück von den jeweiligen US-Präsidenten gestoppt.
Gegen die Sowjetunion legte das US-Joint War Plans Committee bereits im Juli 1947 einen Plan vor, der den Abwurf von 34 schweren Atombomben auf 24 sowjetische Städte forderte; u.a. sieben auf Moskau, drei auf Leningrad, zwei auf Charkow und Stalingrad. Der Plan rechnete mit Millionen von Toten und der massiven Zerstörung der Industriezentren des Landes.
Zwei Jahre später, im Januar 1949, zu einer Zeit, wo die Sowjetunion noch keine Atomwaffen hatte, enthielt ein unter dem Codenamen “Trojan” bekannt gewordener strategischer US-Angriffsplan Nuklearwaffeneinsätze auf 70 sowjetische Städte mit 133 schweren Atomwaffen, wovon 8 für Moskau und sieben für Leningrad vorgesehen waren.
Im August 1949 detonierte die Sowjetunion ihre erste Atombombe, die dann durch eine internationale Trägerrakete komplementiert wurde, die 1957 als Warnung an die USA den ersten Sputnik in die Erdumlaufbahn brachte.
In Folge des überraschenden Fortschritts der sowjetischen Raketentechnik veränderte sich die US-Nuklearstrategie, weg von der präventiven, massiven Vernichtung der Sowjetunion zur Strategie der “Mutually Assured Destruction”, also zur “Sicheren Gegenseitigen Zerstörung” – wobei die englische Abkürzung MAD auf Deutsch übersetzt in zutreffender Weise “wahnsinnig” bedeutet.
Der Umstand, dass die Kuba-Krise 1962 nicht wenigstens in einer konventionellen Seeschlacht zwischen amerikanischen und sowjetischen Kriegsschiffen ausgeartet ist, dürfte auf die MAD-Zwangsjacke zurückzuführen sein. Nämlich auf die Einsicht beider Seiten, dass ein konventioneller Krieg zwischen ihnen zwangsläufig zum Einsatz von schweren Atomwaffen auf beiden Seiten führen und keiner überleben würde.
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Diese Einsicht führte beide Seiten zehn Jahre später, 1972, zur Unterzeichnung des ersten strategischen Rüstungsbegrenzungsabkommens SALT-I. Das sollte die nuklearen Arsenale der USA und der SU auf dem Stand von 1972 einfrieren und damit die Voraussetzungen für Verhandlungen über die Beendigung bzw. Begrenzung des Wettrüstens verbessern. Daraus entstand dann auch der ABM-Vertrag zur Begrenzung ballistischer Raketenabwehrsysteme, mit dem Ziel, mit Hilfe der Aufrechterhaltung der Gefahr der gegenseitigen Vernichtung beide Seiten vor konventionellen kriegerischen Zusammenstößen abzuschrecken, weil daraus ein Abrutschen in einen nuklearen Konflikt resultieren könnte. Es ging also darum, auf beiden Seiten die Gewissheit zu zementieren, dass derjenige, der zuerst schießt, in dem dadurch ausgelösten Inferno der nuklearen Vergeltung ganz sicher als zweiter stirbt.
Diese MAD-Doktrin wurde jedoch von vielen US-Strategen, vor allem von Henry Kissinger und Wollweber als Zwangsjacke gesehen, da dadurch auch Provokationen, die zu einem konventionellen Konflikt mit der Sowjetunion führen könnten, politisch ausgeklammert wurden. Die Akzeptanz der Strategie der gegenseitigen Vernichtung machte daher den anti-sowjetischen Kriegstreibern in Washington einen Strich durch ihre Pläne, mit Provokationen und Konfrontationen unterhalb der Kriegsschwelle den globalen Einfluss der SU einzuhegen (Containment) und zurückzudrängen (Roll Back).
Das war der Boden, auf dem die Strategie der “Flexible Response”, der “Flexiblen Antwort” entwickelt wurde, die 1967 von der NATO übernommen wurde. Dadurch wurden konventionelle Kriege mit der Sowjetunion wieder denkbar. Denn im Ernstfall würde daraus nicht der große, alles vernichtende strategische Schlagabtausch folgen, sondern mit dem Ersteinsatz von leichten, taktischen Nuklearwaffen könnte man die Gegenseite zum Einlenken und an den Verhandlungstisch zwingen. So zumindest die Theorie. Siehe WINTEX.
Ende von Teil 1
Hier geht es zu Teil 2 der Rede.
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