“Klebe dich an die Liebe Gottes” – Evangelischer Kirchentag endet mit Bekenntnis zum Zeitgeist
Dabei ist selbst bei den noch vorhandenen traditionell an die Kirchen Gebundenen das spezifische Wissen nicht sehr ausgeprägt, obwohl die Vertrauenswerte für die Institution Kirche zumindest für die EKD noch ziemlich gut sind, und bei den eigenen Anhängern die der Bundesregierung übertreffen (die allerdings seit dem Befragungszeitraum viel verloren haben dürfte). Hochschulen und Universitäten waren jedoch die Institution, die am meisten Vertrauen genossen.
Ein Detail, das sofort “die Wissenschaft” in Erinnerung ruft. Oder den deutschen Ethikrat, dieses Gremium des Grauens. Womit wir bei folgender Feststellung wären: Die Kirchen wurden in ihrer Funktion als Quelle moralischer Orientierung schlicht ersetzt. Das ist keine Vermutung, sondern die konkrete Erfahrung, die man bei den Corona-Maßnahmen machen konnte. Und das Ergebnis war nicht weniger päpstlich im Sinne einer selbsternannten Unfehlbarkeit, aber womöglich unbarmherziger.
Es ist eben nicht so, dass die sich säkularisierende Gesellschaft tatsächlich in einer freien Debatte ihre eigenen moralischen Grundsätze findet. Es gibt Interessen, die dafür sorgen, dass die Leerstelle der moralischen Autorität besetzt wird. Die Neubesetzung ist jedoch, schon allein, weil es noch kein jahrhundertealtes Organisationseigeninteresse gibt, politisch weitaus dienstbarer, als es die alten Autoritäten waren. Der Ethikrat ist wie eine Kirche, von der nur noch die Inquisition übrig geblieben ist.
Andere Funktionen bleiben leer oder werden schwerer erreichbar. Wenn man einmal den Idealfall annimmt, unterscheidet sich ein Gespräch mit dem örtlich zuständigen Seelsorger nicht wesentlich von dem mit einem Therapeuten. Nur, dass das, was im Falle der traditionellen Struktur jederzeit erreichbar war, jetzt einen mehrmonatigen Prozess voraussetzt, eine Bewilligung der Krankenkasse, und die sehr personenabhängige Beziehung im einen wie im anderen Fall scheitern kann.
Übrigens sind therapeutische Beziehungen ebenso von Missbrauch gefährdet wie religiöse. Aber weil es dabei nicht um Mitglieder einer alten, früher zumindest sehr mächtigen Organisation geht, werden diese Fälle als einzelne Vorfälle wahrgenommen und nicht als Verantwortung des gesamten Berufsstands.
Das, was aber tatsächlich passiert, was auf die gesamte Gesellschaft Auswirkungen hat, ist, dass Vertrauensbeziehungen, die außerhalb von Familie und Paarbeziehung eine gewisse Intensität haben, mehr und mehr verschwinden. So, wie dann auch jene kollektiven Strukturen verschwinden, die um derartige Beziehungen herum wachsen. Selbst die “schwächeren” Gruppenstrukturen (ich setze jetzt einfach voraus, dass die Binnenkontakte eines Sportvereins schwächer sind als die einer Kirchengemeinde) sind dabei, sich aufzulösen.
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Es geht teilweise noch weiter. Schon in Kindergärten werden die Gruppenstrukturen aufgelöst. Damit entfällt ein wichtiger Teil des sozialen Lernens, nämlich miteinander auch bei Konflikten umgehen zu können. Ich erinnere mich noch daran, wie sehr die Lehrer in den Grundschulen meiner Töchter über Kinder stöhnten, die nicht im Kindergarten waren und daher die nicht ganz unbedeutenden Schritte, sich nach einem Streit wieder zu versöhnen, nie erlernt hatten.
Die Geschichte der christlichen Kirchen ist voller Auseinandersetzungen um Fragen, die heute die wenigsten überhaupt nachvollziehen können. Die Umfrage der EKD hat aus gutem Grund nicht nachgefragt, ob ihre Gläubigen Luthers Rechtfertigungslehre erklären können, auch wenn das der Punkt war, von dem dann endlose Religionskriege ausgingen. Aber so irrwitzig viele der Auseinandersetzungen waren, es war ihnen eine Ernsthaftigkeit zu eigen, die man Truppen wie dem Ethikrat nicht zu Gute halten kann. Die präzise Sprache, die lange die deutsche Philosophie kennzeichnete, war ein Produkt der weltweit einzigartigen unmittelbaren Konkurrenz zweier Staatskirchen, verteilt auf 34 Königreiche und Fürstentümer, jedes mit eigenen Lehrstühlen und Bischöfen. Es war ein Ringen um die Wahrheit, auch bei Hegel, Feuerbach und Marx. Die Art und Weise, wie sich die deutsche Gesellschaft säkularisiert, und welche Surrogate die moralische Instanz bieten sollen, ist inzwischen weit davon entfernt.
Es gibt aber Begriffe, die sich ohne dieses ernsthafte Ringen nicht erschließen. Vergebung, beispielsweise. Es gibt eine säkulare Variante, die sich in der Sicht verkörpert, dass jeder Mensch lern- und veränderungsfähig ist, doch diese säkulare Variante hat wiederum soziale Erfahrungen zur Voraussetzung, die nicht als Einzelner gemacht werden. Weder bei Corona noch aktuell in der Reaktion auf die Bombardierung von Gaza trifft die zügellose Inhumanität, die politisch vorgelebt wird, auf einen moralischen Widerstand der Gesellschaft, der stark genug ist, das Handeln zu verändern.
Das Nachdenken über die moralischen Grundlagen des eigenen Handelns ist etwas, was man nur im Gespräch erlernen kann, und es braucht Vertrauen, damit dieses Gespräch stattfinden kann. Jede spätere Erwägung, jede Entscheidung, die man alleine trifft, ist eine innere Reinszenierung eines solchen Gesprächs. Man erlernt es nicht anhand von Fragen, die einen nicht berühren. Es ist diese Art des Kontakts, die persönliche Reife ermöglicht. In der Regel braucht es dafür ein starkes, bindendes gemeinsames Interesse. Es ist genau die beiderseitige Offenheit, die die Gefahr des Missbrauchs erwachsen lässt. Aber ohne sie ist eine humanistische Haltung, gleich, ob man sie jetzt religiös oder säkular begründet, unerreichbar.
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Das, was an der Institution Kirche in beiden Geschmacksrichtungen stört, ist nicht ihre “offizielle” Seite, die Großkonzerne, die mit ihren Sozialverbänden jeweils eine halbe Million beschäftigen und jederzeit gern ihre Zustimmung zur bestehenden Gesellschaft bekunden. Was daran stört, ist, dass diese Zustimmung nie vollständig war, dass es immer auch Gegenströmungen gab, dass sich letztlich eben die verschiedensten Teile der Gesellschaft irgendwie wiederspiegelten. Man könnte fast behaupten, die Kirche in der DDR war durch zu große Nachsicht der dortigen Regierung derart erfolgreich im Dienste des Westens, dass dieser selbst danach beschlossen hat, auf keinen Fall das Risiko einzugehen, dass es ihm ähnlich ergehen könnte, und diesem Tier die Zähne zu ziehen. Die “alte” EKD jedenfalls, die mit den lila Halstüchern, hätte nicht derart widerspruchsfrei dieser Kriegsbegeisterung zugestimmt.
Wenn man Religionen auf einen zentralen Kernteil eindampfen wollte, auf das, was sie zur Gesellschaft beitragen können, dann ist es eine Botschaft der Gleichheit als Bestandteil eines größeren Ganzen. Schon dieser Gedanke der Gleichheit ist zuviel, kollidiert bereits mit dem extremistischen Ego-Kult, der nötig ist, um den extremen Abstand zwischen Reich und Arm zu verhüllen. Denn die wahre, abgrundtiefe Obszönität, die die kleine Truppe von Milliardären darstellt, kann nur verdeckt werden, indem man sie zu einer von vielen Varianten eines übergeschnappten Egoismus macht, und die eigentlichen Fragen des menschlichen Seins, wie die, was von der eigenen Existenz übrig bleibt, völlig negiert.
Wie weit diese Fragen inzwischen in die Ferne gerückt sind, zeigte sich im Corona-Wahn. Denn sowohl die nicht nur individuelle, sondern gemeinsame Fürsorge für die Kinder als auch der Respekt vor den Alten ergibt sich genau von diesem Punkt aus, von der Wahrnehmung der eigenen Endlichkeit, und das ganze Maßnahmenpaket, mit seiner völligen Entmündigung der Bewohner von Pflegeheimen wie der betonten Kinderquälerei wirkte wie eine kulturelle Inszenierung einer mittleren Generation, die sich ihrer gesellschaftlichen Aufgabe verweigert und im Interesse ihres eigenen Wohlbefindens ihre Vergangenheit wie ihre Zukunft negiert. Warum sollte man sich wundern, wenn eine Gesellschaft, die ihre eigenen Kinder nicht nur wie Feinde behandelt, sondern auch zu Feinden erklärt hat, außerstande ist, die inhumanen Folgen oberflächlicher politischer Phrasen wie von “europäischen Werten” wahrzunehmen?
Analyse Ein Virus und die Frage: Wie verlor eine Gesellschaft Vernunft und Humanität?
Der Rücktritt von Margot Käßmann wirkt im Rückblick wie ein politischer Putsch, der den Widerstand gegen die neoliberale Politik von dieser Seite eingeebnet hat. Gleiches gilt für den katholischen Teil, der über die Mißbrauchsskandale noch weitaus mehr abbekommen hat. Wenn jetzt die nächste Person in der EKD entfernt wird, muss man deshalb fragen, ob das wirklich etwas mit einem Vorfall zu tun hat, der über zwanzig Jahre zurückliegt, oder ob andere Absichten dahinter stehen. Nachdem die Ergebnisse der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD ergeben haben, dass sie noch mehr Vertrauen genießt als die katholische Konkurrenz, wird man das ganz einfach überprüfen können. Dann wird nämlich bald der nächste Skandal folgen. Ich würde einen Finanzskandal vorschlagen, zur Abwechslung.
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