Meinung Kommentar: China braucht mehr Atomwaffen, um Abrüstungsverhandlungen zu ermöglichen
Nach Ansicht des Gastes war die Rolle des INF-Vertrags enorm: Er hatte die Welt buchstäblich vor einem globalen thermonuklearen Krieg zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten bewahrt, an dessen Rand wir in den 1980er-Jahren gestanden hatten. Zum Beispiel hätte er im Jahr 1982 beinahe begonnen. Und es stimmte: Ich erinnere mich gut daran, wie mein Vater vom Dienst zurückgekehrt war und mir erzählt hatte, wie der Reservegefechtsstand der Luftverteidigungseinheit, in der er gedient hatte, sich auf die Abwehr eines Angriffs strategischer US-Bomber vorbereitet hatte, die über den Nordpol auf uns zugerast waren. Dann hatten die Flugzeuge den sogenannten Point of no Return erreicht, ein Gebiet, nach dessen Überqueren sie nicht mehr zurückkehren konnten, ohne ihre Marschflugkörper abzufeuern. Die sowjetische Luftabwehr hatte um diese Linie gewusst – sie hatte nur nicht genau gewusst, wie breit sie war. Damals war es förmlich um Minuten gegangen. Viele waren sich sicher gewesen: “Jetzt geht es los!” Und so hatte die Regierung Ronald Reagan mehrmals mit uns ihr Nervenspiel gespielt.
Erst später, so kommentierte dies Ritter, hatte Reagan begonnen, sich nachbarschaftlich zu verhalten. Der ehemalige US-Aufklärungsoffizier fügte hinzu, dass wir heute sicherlich in einer anderen, sichereren Welt leben würden, wenn George W. Bush nicht beschlossen hätte, die geschwächte UdSSR zu erwürgen.
Ritter bedauert eindeutig, dass die USA unter Abwälzen ihrer eigenen Schuld auf Russland aus dem Vertrag ausgestiegen sind: “Nicht Russland hat die Mittelstreckenrakete getestet, sondern die USA, also sind gerade die USA dafür verantwortlich.”
Seiner Ansicht nach verhält sich Russland heute in strategischer Hinsicht klug, wir haben “eine starke, gut legitimierte Position; die UdSSR wollte von Anfang an Frankreich und Großbritannien (die auch Raketen in Europa haben) in den INF-Vertrag einbeziehen – doch Washington weigerte sich in den 1980er-Jahren, einen Rahmenvertrag abzuschließen, und Moskau bestand nicht darauf. Jetzt ist Russland bei der Diskussion über den neuen Vertrag zu dieser Position zurückgekehrt – und das ist vollkommen gerechtfertigt.”
Der Veteran des Kalten Krieges sagte auch, dass die USA in der gegenwärtigen Lage hart daran arbeiten müssen, das Vertrauen Russlands zurückzugewinnen, damit ein neuer Vertrag überhaupt möglich wird. Wie könnten die Bedingungen dieses Vertrags aussehen? Zum Beispiel könnte man die Anzahl der Atomsprengköpfe im europäischen Raum auf 100 auf jeder Seite begrenzen: Einerseits Russland und andererseits alle NATO-Länder.
Ritter ist bekannt für seine kritische Sicht der aktuellen US-Politik, auch in Bezug auf die Ukraine-Frage:
“Alles steuert auf eine militärische Niederlage der Ukraine gegen Russland zu. Wir sind keine Freunde der Ukraine, wir mögen sie nicht. Bei denen sterben Hunderttausende, zehn Millionen verlassen das Land – und wir ließen es geschehen. Welcher Freund würde so etwas zulassen? Der Schaden hat bereits eine Trillion US-Dollar erreicht. Die Ukraine wird verlieren – und wenn sie verliert, werden wir sie zurücklassen, so wie wir Afghanistan zurückgelassen haben, denn sie sind nicht unsere Freunde.”
Gleichzeitig betrachtet Ritter Russlands Operation in der Ukraine nicht als einen vollwertigen Krieg, da die Ziele und Ergebnisse der Operation nicht allein mit militärischen Begriffen definiert werden können: “Wie man einen Sieg definieren kann? Diese Frage kann nur von der russischen Regierung beantwortet werden”, stellte er zu Recht fest.
Wladimir Putin: Auflösung des INF-Vertrags birgt die Gefahr eines neuen Wettrüstens in Ostasien
Putin muss man ja nicht gleich lieben, erklärte Ritter weiter, aber er muss respektiert werden: Zunächst hatten die USA gedacht, dass Putin den Kurs von Boris Jelzin fortsetzen werde, einem schwachen Anführer, der den USA perfekt gepasst hatte – nur habe Putin Washington die Suppe gehörig versalzen, als er beschloss, sein Land zu retten. Und gerettet habe er es, und so werde Putin seinen rechtmäßigen Platz in der Geschichte einnehmen.
Ich fragte den Veteranen der großen Entspannungsära, ob es sich um des Friedens auf der Erde willen lohne, die Abrüstung im Bereich der Mittel- und Kurzstreckenraketen wiederzubeleben, oder ob es wichtigere Bereiche gebe, da die Raketenrüstung selbst Fortschritte gemacht habe. Er hält eine Wiederbelebung für durchaus sinnvoll, da ballistische Raketen zu noch gefährlicheren Waffen geworden seien – ihre Genauigkeit, Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit haben ja zugenommen. Das bedeutet, dass die Relevanz eines Abbaus der Arsenale ballistischer Raketen nicht nur weiterbesteht, sondern sondern sogar gewachsen ist. In der Tat können wir sehen, wie effektiv die russischen Kurzstreckenwaffen sich gezeigt haben: Iskander-Lenkflugkörper beider Typen, der quasi-ballistische luftbasierte Lenkflugkörper Kinschal oder die ganze Reihe land-, see- und luftgestützter Marschflugkörper – die Kalibr, Onyx, Burja, Ch-101 und so weiter.
Alles zu seiner Zeit
Ja, sicher brauchen wir einen neuen Vertrag, aber wir brauchen ihn nicht heute. Erstens benötigt Russland all diese Waffen in ihrer nichtnuklearen Sprengkopfbestückung, um den aktuellen Konflikt in der Ukraine zu gewinnen. Dies ist unser wichtigster Trumpf. Zweitens müssen die NATO-Atommächte erst zum richtigen moralischen und politischen Zustand geführt werden, um für Verhandlungen über ein faires Abkommen bereit zu sein – sprich, einen Zustand, in dem sie ihre Arroganz, ihre Hybris und ihren Hang zur Täuschung ablegen. Die Zeit arbeitet für Russland – und dieser richtige Sollzustand ist sicherlich nicht mehr weit entfernt.
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