Analyse Die EU verurteilt sich selbst zur Deindustrialisierung
Nehmen wir an, der Krieg endet mit einem entscheidenden Sieg für die Ukraine, aber ohne einen Regimewechsel in Russland. Ich denke, wir müssen hier über die Langfristigkeit der Sanktionen nachdenken, nicht nur über deren Beendigung. Es gibt nur sehr wenige Fälle, in denen Sanktionen einen Regimewechsel herbeiführen. Aber dennoch gibt es Beispiele, und ich denke, Südafrika ist das dramatischste dafür.
Das (World Economic) Forum hat damals natürlich in den ersten Tagen eine wichtige Rolle beim Übergang gespielt.
Wenn man Sanktionen über einen langen Zeitraum aufrechterhält und sie immer weiter verschärft, wirken sie. Ich denke also, man sollte darüber nachdenken, dass militärische Maßnahmen kurzfristig siegreich ausfallen, Sanktionen aber ein langfristiges Projekt bleiben. Und schließlich möchte ich aus eigener Erfahrung sagen, was in den frühen 90er Jahren geschah: Wenn wir eine Chance bekommen und es zu einem Regimewechsel kommt, ist es wichtig, dass wir, wenn der Westen kommt, mehr auf Soft Power setzen und weniger auf die Ausbeutung der Bodenschätze und der Wirtschaft. Sie wissen schon, mehr ‘Die Muppet Show’ als ‘McDonald’s’.”
Mit seinem allerletzten Appell meinte Rogoff, dass man den Russen diesmal viel eher auf sozialer, ideologischer Ebene abholen und ändern sollte. Denn in den US-amerikanischen Sozial- und Medienwissenschaften attestierte man der “Muppet Show” eine besondere Fähigkeit, “sozialen Wandel und Transformation” zu stimulieren. Viel mehr, als es der sprichwörtliche Nahrungskonsum, den McDonald’s als US-Marke verinnerlicht, vermocht hätte.
Besonderes Augenmerk ist hierbei zu legen auf Rogoffs Reflexionen darüber, wie er die US-amerikanische Handhabe der “postsowjetischen Frage” in den 1990ern einordnet. Er gesteht “Fehler” seiner US-Hegemonenkaste ein. Betrunken von der Freude über den Ausgang des Kalten Krieges habe die US-amerikanische Oligarchie zu stark auf die rasche Bodenschatz- und Rohstoffausbeutung Russlands gesetzt und das Land und seine Wirtschaft zu hastig mit US-Dollar-Krediten erdrückt, viel zu wenig aber auf sogenannte “Soft Power” gepocht – eine graduelle, langfristige Umerziehung der russischen Bevölkerung, hin zu einem liberal-demokratischen Selbstverständnis und einer systemischen Kritikunfähigkeit gegenüber dem Liberalismus als Ganzes, wodurch eine bleibende Sehnsucht für ebendiesen entwickelt werden sollte. Wenn dann der “Regime Change” kommen werde und Putin mit seinem Kader vom Tisch seien, so Rogoff weiter, dann müssten die Prioritäten diesmal andersherum gesetzt werden. Wahrscheinlich schwebt dem guten Professor eine Meisterleistung der Volksumerziehung vor, wie sie von den westlichen Besatzungsmächten am deutschen Volke vollzogen worden ist, nach 1945. Die Amerikaner genehmigten den Westdeutschen eine Dekade später sogar ihr Wirtschaftswunder. Ein Erfolgserlebnis folgte auf das nächste. Aber Boris Jelzin, Jegor Gaidar oder Boris Nemzow wird ein solches Wirtschaftswunder für Russland Ende der 1990er nicht nachgesagt – jeder Russe weiß, dass das genaue Gegenteil herrschte.
Zumal Rogoff mit seiner Behauptung, die USA hätten den “Soft Power”-Ansatz in der Russischen Föderation verpasst, nicht einmal richtig liegt: Dieser fand allemal statt, geladen mit viel Kapital. Unter anderem von George Soros, was zu seinen “neuen Schulbüchern” für die neue Generation von Russen führte. Die Kultur wurde bis zuletzt beeinflusst und die Medien sehr stark geformt. Nur reichte das alles dennoch nicht aus, um in den letzten 15 Jahren diesen soziologischen Coupon einzulösen und einen “russischen Maidan” zu erzwingen.
Meinung Eine Wolke trägt Regen: Der Kapitalismus wird sich Russland schnappen oder untergehen
Die Früchte der damaligen US-Umerziehung als langfristiger “Soft Power”-Strategie in der heutigen Bundesrepublik entpuppen sich heute als ein historisch einmaliger Anlage-Erfolg. Dies wird überdeutlich, wenn man sich die letzten fünf deutschen Bundesregierungen ansieht. Wobei die derzeitige die lächerlichste ist – im Sinne eines erbärmlichen Kniefalls gegenüber der US-Politik auf dem europäischen Kontinent. Hoffentlich hört der Kreml aufmerksam zu, was Herr Rogoff und Kollegen in Davos da inmitten all der Berge durch die Täler rufen.
Man bedenke auch, dass Rogoff lediglich vorschlägt, die Reihenfolge der “kommenden” Eroberung Russlands zu modifizieren. Ansonsten schwärmt der unverbesserliche Transatlantiker sicherlich von den russischen Bodenschätzen im gleichen Maße wie General Richardson von denen, die in ihrer Spielwiese in Südamerika verbuddelt liegen.
Und selbstverständlich ist Rogoff auch noch der Autor des Buches “Curse of Cash” von 2017 (zu Deutsch: “Der Fluch des Bargelds”), in dem er argumentiert, dass bereits die bloße Existenz von Bargeld Korruption und Verbrechen anfeuere, vollkommen digitalisiertes Fiatgeld jedoch den langersehnten Segen und “die Freiheit” beschere. Seltsam, denn die größten monetären Verbrechen und systemischen Spekulationskaskaden, die zu dem Finanzcrash 2008 führten, wurden nicht mit der Hanthabung physisch gedruckten Bargelds erreicht, sondern durch digitale Buchhaltung und virtuelles Geld. Der russophobe Hohepriester Rogoff – vom eigenen Glanz seines Intellekts und der Inflation des eigenen Egos geblendet, verpasst gerade den Zerfall seines geliebten Systems. Entweder das, oder er weiß bestens Bescheid, hat persönliche Vorkehrungen getroffen, singt aber öffentlich weiter das Lied vom großen Sieg über Russland, um von der eigenen Schuld und Verantwortung abzulenken.
Um seinen Lebenslauf und seine womögliche Mittäterschaft zu kaschieren, konnte Rogoff einem Auftritt in der von Matt Damon vertonten Doku “Inside Job” (2010) zur Finanzkrise von 2008 nicht widerstehen. Darin äußerte er sich verblüfft über das Handeln der Finanzinstitute vor 2008, und darüber, wie viel Spekulation und Gier damals eigentlich im Gange war. Prozesse, über die die US-Regierung und die US Federal Reserve nachweislich bestens Bescheid wussten, aber nicht nur nichts taten, sondern die verantwortlichen Prozesse sogar willentlich unterstützten.
Was ist dann Russland inmitten all dessen?
Das konventionelle Geschichtsverständnis verlautet, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges das Moskau-geführte Imperium 1991 sichtlich und deutlich ein Ende fand. Ja, man kann gerne auch weit hergeholte Thesen eines Anatoli Golizyn erforschen – ein übergelaufener KGB-Spion, der Anfang der sechziger Jahre sein Heimatland verließ und die USA als sein neues Zuhause erwählte. In seinem Buch “The Perestroika Deception” von 1995 legte er folgende Thesen offen: Die gescheiterten Institutionen der Sowjetunion der späten 1980er Jahre seien “nur zum Schein zerfallen.” Dies sei Teil eines grandiosen, extrem langfristigen Masterplans geheimdienstlicher Eliten Moskaus gewesen, sich freiwillig und vorsätzlich den beiden Jelzin-Kadenzen zu unterziehen, dem Westen damit Hörigkeit nur vorzutäuschen, während westoligarchische Monopole trotzdem Privatisierung staatlicher Sowjetindustrie und des Energiesektors narrenfrei und unbehelligt durchsetzten. Von dem Versuch der Liberalisierung – und somit der ideologisch-weltanschaulichen Verwirrung und Umerziehung – der post-sowjetischen Gesellschaft ganz zu schweigen. All das, um vermeintlich bald imstande zu sein, den “freien Westen” stufenweise zu demontieren und zu demoralisieren. Des Weiteren habe der KGB den armen, ahnungslosen, freiheitsliebenden Westen willentlich und kontrolliert einer institutionellen Unterwanderung ausgesetzt, die dann wohl auf etwas mehr als 40 Jahre angesetzt sein müsste. Zu deren Ende hin soll eine Art aus der Asche gehobene “Sowjetunion 2.0” die kommunistische Weltherrschaft an sich reißen. Den letzten Teil dieser These hörte man im Westen in den letzten 10 Jahren in populären Diskurs-Domänen wiederum oft, und sieht sie mit der Eurasischen Wirtschaftsunion “bestätigt”. Kennt man die innerrussischen Nuancen und schaut man sich aufrichtig die staatliche Ratio Moskaus an, ist Golizyns Generalverdacht heute schwer haltbar.
Umbruch: Die amerikanische Weltordnung neigt sich dem Ende zu
Auch bei den Partnerschaften, die der Kreml innerhalb der Eurasischen Wirtschaftsunion – aber auch mit der BRICS-Gruppe – bisher zustande brachte, darf der Aspekt der Freiwilligkeit und Gleichberechtigung zwischen den Akteuren keinesfalls außer Acht gelassen werden. Letzteres ist wohl das programmatischste Argument gegen den Vorwurf eines “russischen Imperialismus”. Und genau da scheitert Golizyns Thesenpaket, geblendet vom Glitzer und Zauber der Scheinerhabenheit des Imperiums, in dessen Obhut er sich damals begab.
Die gesamten 1990er Jahre waren ein zivilisatorischer Tiefpunkt für die junge Russische Föderation, die die historische Nachfolge der Sowjetunion antrat. Der Grund, weshalb Russland nicht vollkommen zerrieben und zerteilt wurde, ließ sich viele Jahre auf einen sehr plumpen Grund zurückführen: das größte Atomwaffen-Arsenal der Erde. Ohne dieses hätte man Russland bereits 20 Mal neu gegründet, ausgenommen wie eine slawische Wildgans, und nach angelsächsischen feuchten Träumen neu geformt. Seit 2008, und später seit 2014, besonders aber seit 2022 ist klar, dass Russland nicht bloß ein großer Mietraum für verrostete Sowjet-Atombomben ist. Russland wird imperialistisches Großmachtstreben vorgeworfen. Dabei ist es bereits eine kontinentale Energie-Großmacht, die sich mit jedem Sanktionspaket weiter verselbstständigt. Ja sogar als nördliche Seemacht emporsteigt und imperiale Verantwortung übernimmt, seine Interessen schützt und seine territoriale und geostrategische Sicherheit einfordert. Und zwar mit einem großzügigen Höflichkeitsvorlauf von 15 Jahren, wenn man die Zeit ab Putins 2007er-Auftritt auf der Münchener Sicherheitskonferenz zählt.
Der kollektive Wertewesten – als Kapillaren des US-Imperiums – verklumpt vor meinen Augen, mit steigender Tendenz. Und diese US-hegemoniale Thrombose verheißt nichts Gutes. Washington, D.C., mit derlei Hohepriestern wie Kenneth Rogoff, ist im Begriff, geopolitische Machtprognosen – das astronomische Kalkulieren der “Sonnenfinsternis”, wenn man so will – gänzlich zu verlernen. Etwas, das in Mel Gibsons Film prominent als sensorische Betäubung der Massen brillierte.
Es ist ein persönlicher Erkenntnisprozess, zu entscheiden, ob ein gerade noch existierendes Imperium immer noch stur in seiner Blütezeit verweilt, oder sich vielleicht doch bereits im freien Fall befindet. Man braucht nur eine stabile Internetverbindung und etwas Urteilskraft.
So ist es auch eine persönliche Entscheidung, wie bei “Pranke des Jaguars”, wo man sich bei einem solchen Aufprall gerne aufhalten möchte. Eine Art Denkübung, wie sie der polnische Lyriker Stanisław Jerzy Lec einst wunderschön zusammenzufassen pflegte: “Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen.”
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017.
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