Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Christoph Hardt via www.imago-images.de Das DGB-Haus in Köln, Januar 2022
Von Susan Bonath
Wenn am Sonntag die Gewerkschaften und Parteien ihre Stände aufbauen, rote Luftballons und IG-Metall-Fahnen schwenken und glühende Reden für bessere Arbeitsbedingungen halten, und wenn schwarz-rot beflaggte Demonstranten durch Kreuzberg ziehen, ist es wieder so weit: Der 1. Mai ist da. Doch der Kampftag der Arbeiterklasse ist längst nicht mehr das, was er mal war. Die Zeiten haben sich geändert, die Bourgeoisie, die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften ebenfalls. Für viele gilt der Tag als bloßes Event, die Existenz der Klassengesellschaft ist in den Hintergrund geraten – ein fataler Fehlschluss.
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Die Klassengesellschaft existiert
Der 1. Mai 1856 ist lange her. Damals hatten Heerscharen von geknechteten Arbeitern in Australien erstmals für den Achtstundentag demonstriert. 30 Jahre später tat es ihnen die Arbeiterbewegung in Nordamerika gleich. Mit Massenstreiks legten sie Fabriken lahm, die Bourgeoisie reagierte gewaltsam – es gab Tote.
Heute steht der Achtstundentag – freilich mit Ausnahmeregelungen – im Gesetz. Die Gewerkschaftsbosse ringen in freundlichen Gesprächen den Unternehmen alle paar Jahre ein, zwei oder fünf Prozent mehr Lohn ab, womit gerade einmal die Inflation ausgeglichen wird, und nennen das Sozialpartnerschaft. Arbeitskämpfe unterliegen strengen Regeln des Streikrechts – den Generalstreik verbot der deutsche Gesetzgeber mal eben ganz. Das Wort “Klassenkampf” ist verpönt, mancher hält das für Geschwurbel von vorgestern. Und überhaupt: Das Proletariat gebe es so gar nicht mehr, heißt es nicht selten.
Und das ist ein Problem. Denn die Klassengesellschaft existiert. Die Klasse des Proletariats ist so groß wie nie – und so gespalten wie nie. Die herrschende Klasse ist reicher denn je – und ihre Herrschaft so undurchsichtig und verzweigt wie nie. Eine gewagte These? Nein.
Das Proletariat, also die Lohnabhängigen ohne nennenswertes Kapitalvermögen, sitzen heute im Büro, bedienen computergesteuerte Anlagen, schreiben Dienstpläne in Krankenhäusern, fahren Pakete und Essen aus, stecken in Polizeiuniformen, kassieren Kunden in Supermärkten ab oder schwatzen uns Versicherungen auf.
Die Hochbeschulten sitzen mit Gehaltsverträgen in Universitäten, Instituten oder Nichtregierungsorganisationen, in Wirtschaftsberatungskanzleien, Arbeitsämtern, Schulen oder Stadtverwaltungen. Und wer Pech hat, jobbt als Leiharbeiter nahe an der Mindestlohngrenze oder steckt als erwerbsloser Hartz-IV-Bezieher in irgendwelchen Beschäftigungsmaßnahmen. Sie alle sind modernes Proletariat.
Hierarchien in der Arbeiterklasse gab es schon immer, aber wohl nie so ausgeprägt wie heute. Die Anpassungsfähigsten und Loyalsten erhalten Befugnisse und höhere Löhne, was die Fügsamkeit in aller Regel erhöht. Das wichtigste Kriterium für ihre Stellung in der Klassengesellschaft besteht nach wie vor: Sie arbeiten für Lohn – Dienst nach Vorschrift. Ohne Moos nix los.
Meinung
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Lohnarbeit heißt Ausbeutung
Lohnarbeit heißt Ausbeutung. Das ist nicht anders als vor 150 Jahren. Der Mehrwert fließt an die Anteilseigner der Konzerne und in die Steuertöpfe, über deren Verwendung die Lohnabhängigen nicht bestimmen dürfen. Auch die Polizeiknüppel fürs Verprügeln von Demonstranten und die schweren Waffen, die Deutschland an Kriegsparteien, aktuell in die Ukraine liefert, werden davon finanziert, nur zum Beispiel.
Natürlich ist der Lebensstandard in den reicheren Ländern gestiegen. Niemand mehr muss sich in Deutschland zwölf Stunden am Stück mit der Spitzhacke die Knochen kaputtackern. Und doch ist festzustellen: Blicken wir auf die letzten 70 Jahre und die Inflation in dieser Zeit, gilt nach wie vor das Credo der Bourgeoisie. Der Lohn soll den Arbeiter am Leben erhalten, ihn genug motivieren, gleichzeitig vom Streiken abhalten und für seine Reproduktion sorgen. Nicht mehr, nicht weniger.
Und die Lohnunterschiede sind immens. Der eine kann sich von seinem Gehalt ein hübsches Eigenheim, zwei Autos und zwei Jahresurlaube leisten. Bei dem anderen reicht es gerade für das Nötigste. Manch ein Prolet darf anderen Proleten vorschreiben, was sie tun sollen. Oder er darf entscheiden, wer neu eingestellt wird, während andere, schlechter Bezahlte von allen Befugnissen ausgeschlossen sind.
Der Lohnabhängige kann sich nicht aussuchen, ob er seine Arbeitskraft verkauft oder nicht. Er muss es tun, um leben zu können. Das gilt heute wie damals. Doch seine Arbeitskraft zu verkaufen, bedeutet immer, Arbeit verrichten zu müssen, die andere von einem fordern. Wer ganz oben an dieser Spitze steht, bestimmt, was zu tun ist. Das gilt für alle Bereiche – Privatkonzerne, Staatsbetriebe und Behörden gleichermaßen.
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Gezähmte Gewerkschaften und Verbände
Doch das Bewusstsein für die Abhängigkeit ist getrübt, die großen Gewerkschaften sind zu gesetzestreuen wasserbekopften Partnern von Konzernen und Staat mutiert, so zahm wie Lämmer im Streichelzoo. Damit ist der herrschenden Klasse und ihrem Machtinstrument, dem Staat, ein Clou gelungen: Sie haben sich die einstigen Kampforgane der Unterdrückten schlicht einverleibt, nicht nur finanziell, auch ideell.
Die Gewerkschaften sind nicht die einzigen Organisationen, die immer stärker wie verlängerte Arme der Staatsbürokratie agieren. Fast alle Sozialverbände, Medienverlage, Nichtregierungsorganisationen, manchmal sogar Bürgerinitiativen, gehen einen ähnlichen Weg oder haben ihn schon hinter sich. Sogar die karitativen Tafeln sind dabei. Sie lassen schon seit ihrem Start in Deutschland Anfang der 1990er-Jahre die Bedürftigsten im Stich. Denn Voraussetzung für eine Tüte Lebensmittel ist ein gülter Lohn-, Renten- oder Hartz-IV-Bescheid. Mit anderen Worten: Milde Gaben gibt es nur gegen Anpassung an das System.
Was dabei auf der Strecke bleibt, sind die Interessen der Arbeiterklasse. Wer seinen Job behalten will, muckt lieber nicht auf, wenn sich keine Organisationen mehr finden, die ihm Rückhalt geben könnten. Und wenn am anderen Ende die Hartz-IV-Ämter lauern, die einen sowieso wieder unter Androhung der Leistungskürzung in jeden noch so miserablen Job zwingen können. Es ist ein Teufelskreis.
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Für die Bourgeoisie aber ist das ein gigantischer Sieg. So legt man Widerstandsnester trocken, erstickt die meisten Proteste bereits im Keim oder lässt sie wie hauchdünn vorgetragene Einzelmeinungen skurriler Minderheiten erscheinen, die, einmal öffentlich gesagt, von Propagandasalven aus allen medialen Rohren marginalisiert und diskreditiert werden.
Hinter dem gewerkschaftlichen Deckmantel der Sozialpartnerschaft lauert der Freibrief für die Herrschenden für ungehinderte Ausbeutung und Rundumkontrolle all derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Dort lauern die Bewusstlosigkeit für Abhängigkeiten und der reibungslose Ablauf unfassbarer politischer Zerschlagungen einst blutig erkämpfter sozialer Rechte, ja, auch der Grundrechte, ohne nennenswerten Widerstand.
Die Gewerkschaften sind weitgehend gezähmt, und das hat den Klassenkampf gestärkt: und zwar den Klassenkampf von oben. Zum Leidwesen der lohnabhängigen Mehrheit.
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