Raketen auf Polen: Die Geschichte eines “russischen Angriffs”, der doch keiner war
Überdies erklärte Polen, dass man die eigene militärische Bereitschaft erhöhen werde und gleichzeitig die Aktivierung von Artikel 4 des NATO-Vertrags in Erwägung ziehen wolle. Artikel 4 ist ein Mechanismus, der es dem Bündnis ermöglicht, Sicherheitsbedrohungen für Mitgliedstaaten zu erörtern, mit Blick auf den möglichen Einsatz militärischer Gewalt der NATO zur Neutralisierung dieser Sicherheitsbedrohungen. Artikel 4 steht hinter jedem Kampfeinsatz der NATO seit ihrer Gründung, von Serbien über Libyen bis Afghanistan.
Wie aufs Stichwort hin twitterte der litauische Präsident Gitanas Nausėda, dessen Land an Polen grenzt, dass “jeder Zentimeter des NATO-Territoriums verteidigt werden muss”. Der tschechische Ministerpräsident Petr Fiala begab sich ebenfalls auf Twitter, um zu verkünden: “Wenn Polen bestätigt, dass die Raketen sein Territorium getroffen haben, bedeutet dies eine weitere Eskalation durch Russland. Wir stehen fest hinter unseren Verbündeten in der EU und der NATO.” Estland nannte die Situation “besorgniserregend” und sein Außenminister erklärte ebenfalls auf Twitter: “Wir beraten uns eng mit Polen und den anderen Verbündeten. Estland ist bereit, jeden Zentimeter des NATO-Territoriums zu verteidigen.”
Während sich alle Beteiligten einig waren, dass es keine Grundlage für die Auslösung von Artikel 5 der NATO – der Klausel über die kollektive Verteidigung – gab, war die Auslösung von Artikel 4 von Anfang an im Spiel. Polen blieb unnachgiebig: Der “Raketenangriff” auf Polen sei eindeutig ein Verbrechen, eines, das nicht ungestraft bleiben könne. Als solches würde Polen gemäß Artikel 4 darauf drängen, “dass sich die NATO-Mitglieder und Polen auf die Bereitstellung zusätzlicher Flugabwehr einigen, einschließlich derer in einem Teil des Territoriums der Ukraine”.
Und da haben wir es: “einschließlich eines Teils des Territoriums der Ukraine.”
Auftritt Deutschland auf der linken Bühnenseite: “Als unmittelbare Reaktion auf den Vorfall in Polen werden wir anbieten, die Luftüberwachung mittels Patrouillen über polnischem Luftraum mit deutschen Eurofightern zu verstärken”, erklärte ein Sprecher des Bundesverteidigungsministeriums.
Das war das Stichwort für NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der ein Dringlichkeitstreffen der NATO-Botschafter in Brüssel einberief, um den Vorfall in Polen zu erörtern. Laut dem finnischen Außenminister – obwohl kein NATO-Mitglied, war Finnland zu dem Treffen eingeladen – “wird die Schließung des Luftraums über der Ukraine definitiv diskutiert. Verschiedene Optionen, wie wir die Ukraine schützen können, liegen auf dem Tisch.”
Während Berichten zufolge Deutschland die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine ablehnte und anmerkte, dass eine solche Aktion die Gefahr einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO berge, muss man kurz darüber nachdenken, wie eine solche Diskussion überhaupt zustande kommen konnte: Die Ukraine feuerte eine Boden-Luft-Rakete ab, die von den Radaranlagen der NATO verfolgt wurde, bis sie auf polnischem Gebiet einschlug. Infolgedessen diskutieren die NATO-Mitglieder schließlich über die Möglichkeit, sich auf Artikel 4 der NATO-Charta zu berufen, um zu versuchen, die Luftverteidigung der NATO auf den ukrainischen Luftraum auszudehnen, zusammen mit der Einrichtung einer Flugverbotszone, die von Flugzeugen der NATO durchgesetzt werden soll.
Präsident Duda: “Höchstwahrscheinlich” schlug ukrainische Rakete auf polnischem Gebiet ein
“Selbst, wenn es sich um einen ‘Blau beschießt Blau”-Vorfall mit einer ukrainischen Rakete gehandelt hat, die in Polen eingeschlagen ist, denke ich, dass Polen immer noch genug Grund hat, sich auf Artikel 4 zu berufen”, erklärte ein ehemaliger Direktor für politische Planung der NATO, Fabrice Pothier.
Nur um klarzustellen, was Herr Pothier damit sagte: Weil die Ukraine eine Boden-Luft-Rakete abgefeuert hat, die schließlich auf polnischem Boden einschlug, ist die NATO berechtigt, sich auf Artikel 4 zu berufen und damit die Voraussetzungen für einen möglichen Konflikt zwischen der NATO und Russland in der Ukraine zu schaffen, was zur globalen nuklearen Vernichtung führen könnte. Wenn es jemals einen Zweifel an der Bedrohung gab, die von der NATO für die ganze Welt ausgeht, dann gibt es jetzt keinen mehr.
Dass dies alles im Namen eines ukrainischen Präsidenten verkündet wurde, der bis heute leugnet, dass es sich bei der Rakete um eine ukrainische gehandelt hat – obwohl das jetzt allgemein anerkannt wird – trägt nur zusätzlich zum Wahnsinn in dieser Krise bei.
Während es den Anschein hat, dass die Welt diesmal dem potenziellen Todesurteil durch den NATO-Artikel 4 ausgewichen ist, sollte der haarsträubende Aspekt dieser Pawlowschen Reaktion der NATO bei der Suche nach einer kausalen Rechtfertigung für eine militärische Intervention in der Ukraine uns alle in höchste Alarmbereitschaft versetzen.
Aus dem Englischen.
Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991 bis 1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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