Mittelstand: Großteil der Firmen gegen Stopp russischer Energieimporte
“Dies wird es ermöglichen, die Verluste durch das Embargo abzumildern und einen starken Impuls für die Beschleunigung der Entwicklung grüner Energie zu geben. Dies kann potenziell zu einem Zufluss von Kapital und Investitionen führen und einen neuen Trend setzen, der es Europa ermöglicht, auch im 21. Jahrhundert ein bedeutender Akteur in der politischen Arena zu bleiben, die bereits im Vorfeld als ‘asiatisch’ bezeichnet wurde”, beschreibt Kazaryan das Best-Case-Szenario für die EU.
Es gibt in diesem Szenario allerdings viele “Aber”, darunter die schwerfälligen bürokratischen Entscheidungsprozesse der EU, die oben erwähnten Meinungsverschiedenheiten zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund ihrer unterschiedlichen Beziehungen zu Russland und der Abhängigkeit von seinem Gas, die Schwierigkeit, vorab genehmigte EU-Haushalte zu revidieren. “Grüne Energie ist gut, aber wir sollten nicht vergessen, dass es mit der heutigen Technologie nicht möglich ist, die benötigte Energiemenge zu erzeugen”, so Kazaryan.
Das pessimistische Szenario sieht eine radikale und grundlegende Transformation der EU vor, bei der stark steigende Arbeitslosenquoten aufgrund von Industrieschließungen sowie Energie-, Nahrungsmittel- und politischen Krisen nicht ausgeschlossen werden können.
“Und natürlich eine Vervielfachung der Energiekosten aufgrund der hohen Kosten für LNG und einer unzureichenden Versorgung. Darüber hinaus gibt es in Mittel- und Osteuropa nicht genügend Kapazitäten und Terminals für die Entgegennahme und Lagerung von LNG. Es gibt eine relativ großen Kapazität in Litauen, in Klaipėda, aber die wird nicht für alle baltischen Länder ausreichend sein”, gibt Kazaryan zu bedenken.
Während das litauische Energieministerium berichtete, dass sich das Land durch das 2014 in Betrieb genommene LNG-Terminal in Klaipėda vollständig selbst versorgen kann, warnte Premierministerin Ingrida Šimonytė, dass das Terminal nicht ausreichen wird, um alle baltischen Länder mit Gas zu versorgen. Und trotz einer langfristigen Vereinbarung mit Katar über eine Energiekooperation vom März 2022, in der die Lieferung von LNG vorgesehen ist, steht Deutschland vor einem ähnlichen Problem.
“Dies ist definitiv keine Geschichte für das kommende Jahr, da es in Deutschland keine Terminals gibt, die LNG-Gas aus Katar entgegennehmen könnten. Darüber hinaus kann Katar nur etwa 15 Milliarden Kubikmeter liefern, während sich die Lieferungen aus Russland auf etwa 60 Milliarden Kubikmeter belaufen”, so Kazaryan.
Zwei Probleme für Russland
Ein Embargo russischen Gases träfe unweigerlich die Importwirtschaft. Das Hauptproblem besteht darin, dass Russland nicht über eine ausreichend entwickelte Infrastruktur verfügt, um die Verluste auszugleichen, indem es sein Angebot auf andere Märkte umleitet. Salichow ist der Meinung, dass es für Russland schwieriger sein wird, mit dieser Situation umzugehen, als die Ablehnung seines Öls.
“Die EU ist sehr abhängig von russischem Gas, aber das bedeutet auch, dass Russland sehr abhängig vom europäischen Markt ist. Aus heutiger Sicht gibt es nur sehr wenige Alternativen, einfach weil unser gesamtes System von Gaspipelines auf Europa ausgerichtet ist und es unmöglich sein wird, die Ströme innerhalb des derzeitigen Gastransportsystems auf andere bedeutende Märkte umzulenken. Es gibt die Türkei, aber sie verbraucht bereits viel russisches Gas und wird nicht unbedingt bereit sein, seine Einkäufe stark zu erhöhen.”
Meinung
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“Die asiatischen Länder mögen bereit sein, mehr zu kaufen, aber die Frage ist, wie sollen sie es beziehen? Die einzige Gaspipeline in den Osten ist die ‘Power of Siberia’ nach China, die physisch nicht an ein einheitliches Gasversorgungssystem angeschlossen ist, sodass es unmöglich ist, das in Jamal produzierte Gas über das bestehende System der Gaspipelines nach China zu transportieren. Das bedeutet, dass wir schnell mit China über eine ‘Power of Siberia-2’ verhandeln müssen. Das Konzept dafür existiert zwar bereits, aber es befindet sich noch in der Entwurfsphase, und es wurden keine konkreten Vereinbarungen getroffen”, gibt Kazaryan zu bedenken.
Während Kazaryan feststellt, dass Chinas Appetit auf Energie wächst, seit es die Kohle aufgrund von Umweltproblemen aufgab, und die Nachfrage aus Indien jährlich steigt, stimmt er hingegen zu, dass es derzeit technisch schwierig ist, die Lieferungen an diese Länder zu erhöhen. “Es ist möglich, zusätzliche Pipelines zu bauen, aber nur mit Chinas Hilfe. Aber dann wird China in den Markt eintreten, Geld in die Auftragnehmer von Gazprom stecken und anfangen, Bauprojekte selbst zu realisieren.”
Ähnliche Probleme zeigen sich bei LNG-Terminals. Derzeit gibt es davon in Russland nur zwei große Anlagen – auf der Halbinsel Jamal, wo Nowatek eine Mehrheitsbeteiligung hält, und auf den Sachalin-Inseln, wo Gazprom eine Mehrheitsbeteiligung hält. Laut Salichow sind diese bereits voll ausgelastet, und es ist unmöglich, die Exporte aus diesen Anlagen zu steigern.
Beide Anlagen wurden mit ausländischen Technologien gebaut, die Russland offenbar nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Beispielsweise stellte die Linde AG, ein deutsches Unternehmen, die Arbeit an neuen Projekten in Russland ein und beabsichtigt, die gegen Moskau verhängten EU-Sanktionen einzuhalten. Juschkow räumt ein, dass Russland weder über die Technologie noch über die Ausrüstung verfügt, um LNG-Anlagen mit hoher Kapazität zu bauen.
“Shell hat auf Sachalin gebaut, und das Jamal-LNG-Terminal wurde auf Basis von US-Technologie gebaut. Die neue Arctic-LNG-2-Anlage wird auf Basis deutscher Linde-Technologie gebaut. Unsere Hauptaufgabe besteht darin, diese Technologie schnell selber zu entwickeln. Wir können immer noch LNG-Anlagen mittlerer Kapazität, also mit Kapazitäten von bis zu eine Million Tonnen pro Jahr bauen, wenn auch mit Schwierigkeiten. Ab dann ist es einfach, LNG-Anlagen mittlerer Kapazität so zu skalieren, dass größere Mengen bewältigt werden können. Dann werden wir weiterhin LNG aus diesen Anlagen exportieren, um Flexibilität bei der Wahl der Absatzmärkte zu haben”, skizziert Juschkow mögliche Chancen.
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Aber in jedem dieser Szenarien wird Russland unweigerlich greifbare materielle Verluste erleiden, da die Neuausrichtung der Energieströme einige Zeit in Anspruch nehmen wird. Salichow merkt an, dass selbst, wenn der Bau der “Power of Siberia-2” heute begonnen würde, es etwa fünf Jahre dauern werde, bis sie fertig ist. “Auch der Bau von LNG-Anlagen dauert etwa fünf Jahre. Ja, der Gaspreis wird steigen, aber wenn man nicht exportieren kann, welchen Unterschied macht es?”, so die Schlussfolgerung Salichows.
“Wir werden Geld verlieren, und die EU wird Strom und Heizung verlieren. Das ist vielleicht nicht gleichzusetzen, aber wir müssen zugeben, dass Gas dem russischen Staat derzeit viel Geld einbringt. Gazprom hat allein im vergangenen Januar Gas im Wert von 9,5 Milliarden US-Dollar verkauft”, sagte Juschkow.
Übersetzt aus dem Englischen.
Maxim Chwatkow ist ein russischen Journalist, der sich mit Themen der internationale Sicherheit, der China-Politik und der Kräfte der internationalen Soft-Power befasst.
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