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Von Anton Gentzen
Bei der Flut an aktuellen Nachrichten über den Krieg in der Ukraine, die häufig mit überbordenden Emotionen verbunden sind, wird vergessen, dass es sich um eine Tragödie von zwei großen europäischen Völkern handelt – des russischen und des ukrainischen.
Nahezu jeder Russe hat Verwandte in der Ukraine, nahezu jeder Ukrainer solche in Russland. Mehr noch: Eine nicht geringe Zahl jener, die sich heute “Ukrainer” nennen, wanderten selbst aus Zentralrussland ein oder sind in zweiter oder dritter Generation Nachkommen Eingewanderter. Und in Russland bezeichnen sich fast drei Prozent der Einwohner als Ukrainer, das sind mehr als vier Millionen Menschen. Ukrainestämmige dürfte es indes weitaus mehr geben, erkennbar an Nachnamen, die mit “-ko” enden, aber nicht nur. Es sind nochmals viele Millionen. Von gemischten Ehen und daraus Abstammenden ganz zu schweigen. Eine so enge Vermischung ist nach Jahrhunderten unbeschränkter landesweiter Mobilität und Heirat über alle ethnischen Grenzziehungen hinweg nicht anders zu erwarten. Undurchdringliche Grenzen gab es in diesem Teil der Erdkugel bis 2014 ohnehin zu keinem Zeitpunkt. Nie.
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Dabei ist letztlich nachrangig, ob Russen und Ukrainer zwei Völker oder zwei Stämme eines Volkes sind. Selbst diejenigen, die in den Ukrainern ein eigenständiges Volk sehen wollen, können die enge Verwandtschaft und die millionenfachen Bindungen von Russen und Ukrainern nicht leugnen. Und auch die Anhänger der Ein-Volk-Theorie haben gute Argumente. Sind die US-Amerikaner ein Volk? Zweifellos. Dabei existieren die USA noch nicht so lange, wie Ukrainer und Russen in einem Staat lebten. Knapp 250 Jahre US-Geschichte stehen fast 340 Jahren gegenüber, in denen das Kerngebiet der heutigen Ukraine zu Russland gehörte, selbst wenn man die Epoche der Kiewer Rus nicht mitrechnet.
Gemessen an diesen 340 Jahren sind die 32 Jahre ukrainischer Unabhängigkeit nur eine Fußnote im Geschichtslehrbuch. Es ist gerade einmal eine Generation der Ukrainer, die die Einheit mit dem Nachbarvolk und die Vorteile der Integration in ein multiethnisches Riesenreich nicht kennt. Gerade diese Generation ist aktuell mit Volldampf dabei, das eigene Land brutal und blutig vor die Wand zu fahren.
Die Ukraine – das russische Bayern; Bayern – die deutsche Ukraine
Als Deutscher kann man das Ausmaß der Tragödie und die Tiefe der damit verbundenen Wunden am ehesten nachvollziehen, wenn man sich vorstellt, Bayern würde sich vom übrigen Deutschland auf ähnliche Weise erst trennen und dann auch noch zu einem Deutschland feindselig gegenüberstehenden Bündnis überlaufen, wie es die Ukraine im Verhältnis zu Russland tat. Ein solches Gedankenexperiment ist vollkommen valide, denn die Bayern haben im Verhältnis zu Preußen, Rheinländern und Norddeutschen nicht weniger, sondern deutlich mehr Besonderheiten vorzuweisen, als Ukrainer, selbst Westukrainer, im Verhältnis zu Russen.
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Um Ukrainisch verstehen zu lernen, eine Sprache, die mir davor allenfalls als Vordruck meines Musikschulzeugnisses begegnet war, reichten mir 2013 zwei Wochen intensiven Konsums Kiewer TV-Sender. Bayrisch verstehe ich bis heute, nach vielen Jahren regelmäßiger Fahrten durch den Freistaat, nicht.
Dass ein Vergleich des russisch-ukrainischen Verhältnisses mit der deutschen Stammes-, Dialekt- und Kulturvielfalt innerhalb einer Nation naheliegt, wusste schon Rosa Luxemburg. In ihrem berühmten Aufsatz “Zur russischen Revolution” schrieb sie Anfang 1918:
“Der ukrainische Nationalismus war in Rußland ganz anders als etwa der tschechische, polnische oder finnische, nichts als eine einfache Schrulle, eine Fatzkerei von ein paar Dutzend kleinbürgerlichen Intelligenzlern, ohne die geringsten Wurzeln in den wirtschaftlichen, politischen oder geistigen Verhältnissen des Landes, ohne jegliche historische Tradition, da die Ukraine niemals eine Nation oder einen Staat gebildet hatte, ohne irgendeine nationale Kultur, außer den reaktionär-romantischen Gedichten Schewtschenkos. Es ist förmlich, als wenn eines schönen Morgens die von der Waterkant auf den Fritz Reuter hin eine neue plattdeutsche Nation und einen selbständigen Staat gründen wollten!”
Luxemburg übte mit diesen Worten heftige Kritik an der Nationalitätenpolitik Lenins und der Bolschewiki, die innerhalb eines bis dahin geeinten Volkes künstliche Identitäten förderten und zum Anwendungsfeld der Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker werden ließen. Man kann darüber streiten, ob es wirklich so war, denn bourgeoisen Nationalismus gab es in der Ukraine ganz unabhängig von den Bolschewiki und Kiewer Loslösungsbestrebungen noch vor deren Machtergreifung. Doch Befindlichkeiten dieser Art und separatistische Bestrebungen gab und gibt es auch in Bayern. Und nicht mehr und nicht weniger als die Vergleichbarkeit der Ukraine mit Bayern (sowie Schottland in Großbritannien, der Bretagne in Frankreich und dem Baskenland in Spanien) will ich an dieser Stelle behaupten.
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“Divide et impera”: Seit wann ist es im Interesse der Beherrschten, geteilt zu werden?
Meinem Menschenideal ist es zutiefst zuwider, wie leicht sich Völker spalten, teilen und gegeneinander ausspielen lassen. Besonders dumm ist dies, wenn man zuvor Jahrhunderte in Einheit zusammengelebt, letztlich gute Formen dieses Zusammenlebens gefunden und nur gemeinsam stark sein und gedeihen kann, wie es zwischen Russen und Ukrainern der Fall ist. Den Spruch “divide et impera” – teile und herrsche – kennt jeder, auch Ukrainer kennen ihn. Wie kommen sie denn auf den Gedanken, dass dieses Prinzip jemals im Interesse der Geteilten und Beherrschten angewendet werden könnte?
Russen und Ukrainer haben zusammen (auch mit anderen, kleineren Völkern) ein riesiges Land besiedelt und nutzbar gemacht. Ein Land, das Gott oder die Natur (wer von beiden, möge der Leser selbst nach seiner Weltanschauung entscheiden) großzügig beschenkt hat mit Reichtümern aller Art. Die natürlichen Segnungen könnten für beide (und für alle daran beteiligten) Völker Unterpfand für ein Leben in Wohlstand und Sicherheit sein. Die Sowjetunion war rückwirkend und ganz nüchtern betrachtet auf dem besten Weg, dieses Paradies für alle ihre Bürger zielstrebig und planvoll zu erreichen. Es war bereits in greifbarer Nähe, als das Riesenreich 1991 hinterrücks gemeuchelt wurde.
Warum geschah dies wohl und in wessen Interesse? Russen und andere Völker der Russischen Föderation allein sind zu schwach, um die Reichtümer ihres Landes gegen Begehrlichkeiten von außen auf Dauer zu verteidigen und zu halten. Die Ukrainer, für die Sowjetunion ein wichtiger Pool an Personal und Arbeitskraft auf allen Ebenen, haben sich von all den Schätzen durch ihren Separatismus selbst abgeschnitten. Wie ich zu sagen pflege, gleicht Russland ohne die Ukraine einem Menschen, dem ein Arm abgehackt wurde. Die Ukraine ohne Russland ist dieser abgehackte Arm.
Wofür kämpfen Ukrainer?
Seit 2013 frage ich jeden Ukrainer, dem ich begegne, wozu er persönlich denn eine unabhängige Ukraine brauche. Wozu ukrainische Oligarchen, Beamte und Politiker sie brauchen, ist leicht zu verstehen: Den einen ermöglichte die Unabhängigkeit einen einträglichen Raub an den Ressourcen des Landes, und Nationalismus dient als Rechtfertigung für brutale Ausbeutung und als Blitzableiter für den Zorn der Ausgebeuteten, den anderen ermöglicht sie den Aufstieg in Positionen, die sie in einem größeren und geeinten Land in Ermangelung echter Talente wahrscheinlich nie erreicht hätten.
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Wozu aber braucht der normale Ukrainer, der Arbeiter, der Ingenieur, der Bauer die Unabhängigkeit? Lebt er dadurch objektiv besser? Nein, die Ukraine ist nach 1991 wirtschaftlich ins Bodenlose abgestiegen und konkurriert inzwischen mit Albanien und Moldawien um den Titel des Armenhauses Europas. Würde er durch die Einheit oder eine wie auch immer geartete Integration mit Russland irgendetwas verlieren, etwa Sprache, Kultur, konkrete Freiheiten? Nein, nichts dergleichen, in der Sowjetunion hatte er alle Rechte, die Ethnien zustehen, und das wäre in einer neuen Union nicht anders. Die Reichtümer Russlands sind andersherum Gewähr dafür, dass es in einem wiedervereinigten Land allen seinen Einwohnern, auch und insbesondere den Ukrainern, besser gehen würde.
Wofür also kämpfen Ukrainer heute? Eine substanzielle Antwort darauf habe ich bislang nicht erhalten. Das einzige Mal, dass ich so etwas wie eine Antwort mit Substanz jenseits propagandistischer Parolen gehört habe, war, als ein Einwohner von Kramatorsk meinte, er werde seine Zweizimmerwohnung nicht “den Russen” überlassen. Ja, genau wegen deiner Zweizimmerwohnung führen “die Russen” Krieg! Sarkasmus off.
Die westliche Propaganda behauptet, die Ukrainer wollten in die EU, und dafür kämpften sie. Doch ist es wirklich so? Gefragt hat die Ukrainer selbst bisher keiner. Ein Referendum um die außenpolitische Ausrichtung des Landes forderte 2013 ausgerechnet die “prorussische” Kommunistische Partei der Ukraine und sammelte dafür Unterschriften, die proeuropäischen Kräfte – zu denen auch der damalige Präsident Janukowitsch zählte – waren strikt gegen das Referendum und verhinderten es letztlich. Sie werden wissen, warum.
Verbrechen im Namen Europas
Es kann schon sein, dass heute, im Ergebnis eines zehnjährigen Propagandamonopols der Europäer und Transatlantiker, eine Mehrheit der Ukrainer für den EU- und NATO-Beitritt ihres Landes stimmen würde. Eben im Ergebnis einer aggressiven Propaganda unter den Bedingungen eines faktischen Monopols des Westens in den Medien. Ukrainer leben seit 2014 so gut wie vollständig abgeschottet von jeder Gegenmeinung und jedem “russischen Einfluss”: Die russischen Sender sind abgeschaltet, soziale Netzwerke gekappt, Zeitungen und Bücher verboten, Reisen und gegenseitige Besuche wurden von Jahr zu Jahr immer schwieriger und seltener. Dass EU und USA Milliarden in “Imagewerbung” in der Ukraine investierten und weiter investieren, ist kein Geheimnis, und Werbung wurde speziell dafür erfunden, in Menschen Bedürfnisse zu wecken, die sie nicht hatten, ihnen Sachen zu verkaufen, die sie nicht brauchen, die für sie möglicherweise sogar schädlich sind. Würde Werbung nicht funktionieren, gäbe es sie nicht.
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Was die Ukrainer tatsächlich wollen, sind, nachvollziehbar, Wohlstand und “ein gutes Leben”. Das sehen sie in Europa, und darum verkauft sich proeuropäische “Imagewerbung” besonders gut. Zu erkennen, dass die EU gar nicht die Absicht hat, den Ukrainern ein gutes Leben aufzubauen, dass es im Gegenteil darum geht, den Wohlstand der Europäer durch einen Raubzug im Osten zu sichern, bedarf einer intellektuellen Anstrengung und des schmerzhaften Verzichts auf seelenwärmende Illusionen.
Machen wenigstens wir uns nichts vor: Wir erleben einen Eroberungskrieg des Westens um russische Ressourcen, der mit den Händen der Ukrainer und derer, die sich dafür halten, geführt wird. Dass es so kommen wird, habe ich zum ersten Mal im Jahr 2007 in einer umfangreichen militärstrategischen Analyse gelesen. Jeder, dem ich den Artikel damals gezeigt habe, hat darüber gelacht, so unvorstellbar schien damals ein russisch-ukrainischer Krieg. Doch die damalige Analyse, leider hatte ich mir den Namen des Autors nicht eingeprägt, beruhte auf knallharter Logik, und knallharte Logik irrt sich selten: Der Westen muss die russischen Ressourcen erbeuten, er kann es nicht in direkter Konfrontation mit der Atommacht Russland, also nutzt er den ukrainischen Nationalismus, kauft und besticht die ukrainische Elite, spielt dem Volk einen leichten Weg zu “europäischem” Wohlstand vor und erschafft sich damit aus dem Brudervolk der Russen eine willige Waffe, einen Rammbock, mit dem er die russische Festung plattmacht.
Nicht Russland ist der Aggressor in der Ukraine, es ist seit 2004, 2008, spätestens 2013 der Westen – die EU, die NATO, die USA, Deutschland. Russland hat all die Jahre nur auf die fortschreitende Expansion des Westens in seinen weichen Unterbauch reagiert, und dies immer zu wenig und zu wenig effektiv.
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Und nun leiden beide Brudervölker. Schon die Idee, eine EU-Außengrenze zwischen ihnen zu ziehen, dort, wo wie schon erwähnt in der Menschheitsgeschichte niemals eine Grenze verlaufen ist, war und ist eine Unverschämtheit sondergleichen. Dann wurden Familien und Freundschaften zerrissen, in Russland lebende Ukrainer und dort geborene Russen, Juden, Griechen, können seit neun Jahren die Gräber ihrer Eltern nicht mehr besuchen. Nun fließt Blut, das Blut beider Völker.
Wer als Europäer ein Gewissen hat, aber dumm ist, freut sich über die “Verbreitung der europäischen Idee”, die bevorstehende Expansion der EU. Für ihn ist es ein Spiel, ist ja nicht seine Tragödie. Wer als Europäer versteht, um was es wirklich geht, und kein Gewissen hat, der will diesen Raubzug, weil er davon selbst zu profitieren gedenkt. Derjenige Europäer jedoch, der klug ist und ein Gewissen hat, der kann sich nur schämen ob des millionenfachen Leids, das im Namen der “europäischen Idee” über beide Völker gebracht wurde – das russische und das ukrainische. Es ist nicht das erste Verbrechen dieser Art, das von Europäern begangen wird, genauso wurden Serben und Kroaten auseinandergerissen und gegeneinander ausgespielt, oder Inder und Pakistaner. Es ist aber wahrscheinlich eines der bislang größten.
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