Analyse Zugeständnisse ante portas: Der Westen ist des Krieges und der Ukraine überdrüssig
Der deutsche Bundeskanzler hält daher nur ein schwaches Blatt in der Hand. Es gibt nur einen Weg, dieses schlechte Blatt wenigstens gut zu spielen, und dieser Weg führt über die Politik. Scholz könnte Deutschland etwas Spielraum verschaffen, wenn er das täte, was Peking in dem oben erwähnten Artikel in der Global Times signalisierte: etwas mehr Autonomie zeigen, ein wenig mehr Distanz erkennbar werden lassen zwischen sich und den Hardlinern, die jetzt sowohl in Washington als auch in Brüssel dominieren.
Schon die theoretische Möglichkeit, dass der deutsche Bundeskanzler vom Drehbuch abweichen könnte, ist für die Falken im Westen ein dermaßen alptraumhaftes Szenario in Bezug auf China, dass eine der beiden einflussreichsten US-Zeitschriften für internationale Politik zum Exorzismus griff, um Scholz jegliche abweichenden Ideen vorsorglich auszutreiben. Foreign Policy widmete einen ganzen Artikel der Frage, ob Scholz “den Schwanz einziehen” und sich gegenüber Peking zu versöhnlich zeigen werde. Während die Global Times in ihrem Artikel zum Besuch von Scholz eine Einladung in der Art “Ein Angebot, das Sie nicht ablehnen sollten” aussandte, lautete die Botschaft von Foreign Policy : “Wage es ja nicht!”
Aber Scholz sollte es wagen. Es wäre nur rational, weil es tatsächlich der einzige Trumpf ist, den er in der Hand hat. Wie Foreign Policy sehr wohl erkannt hat, kann die harte Linie der EU gegen China auf Dauer nicht aufrechterhalten werden, wenn Berlin davon abweicht. Und ohne die Aufrechterhaltung dieser Linie durch die EU würde auch für Washington das Spiel deutlich schwieriger werden. Genau das ist der Trumpf, den Scholz hat, aber nicht spielt: die Macht, beide Seiten auszubalancieren und gleichzeitig gegeneinander auszuspielen.
Leider stoßen wir hier an die sehr engen Grenzen von Olaf Scholz als Bundeskanzler. Er ist bei weitem kein Reichskanzler Bismarck. Stattdessen haben wir es mit einem Menschen zu tun, den man als den einerseits rücksichtslosesten, andererseits gegenüber den USA als den rückgratlosesten und unterwürfigsten Bundeskanzler seit 1949 bezeichnen kann. Scholz stand grinsend daneben, als Biden in seiner Anwesenheit ankündigte, dass die USA die Ostsee-Pipelines Nord Stream zerstören werden, wenn ihnen danach ist. Als genau das dann tatsächlich passierte, geschah – nichts! Der deutsche Staat nahm es wortlos hin, der Bundeskanzler Scholz grinste weiter vor sich hin.
Unter Scholz ist Deutschland zum perfekten Vasallen der USA geworden. Dementsprechend sind sich die derzeit regierenden Eliten in Brüssel und Berlin auch in allem absolut einig, weil Ursula von der Leyen als eine weitere ultraatlantische Politikerin die Europäische Kommission leiten darf. Einige Beobachter spekulieren zwar, dass Deutschland durchaus geschickt noch hier und da ausscheren könnte, doch in der Summe wäre selbst das für Peking wohl zu wenig.
Mit der Frage der Abhängigkeit sind wir auch beim vorletzten erheiternden Aspekt des Scholz-Besuchs in China angelangt: Der Bundeskanzler hatte im Vorfeld durchblicken lassen, dass er China bezüglich seiner Russlandpolitik und des Krieges in der Ukraine herausfordern wolle. Im Wesentlichen scheint Scholz zu glauben, dass es sein Recht oder gar seine Pflicht sei, China zur Lockerung seiner Beziehungen zu Russland zu drängen und dabei noch die unrealistischen Vorschläge des Westens zur Beendigung des Krieges in der Ukraine zu wiederholen, ohne anzuerkennen, dass Russland diesen Krieg wohl gewinnen wird.
An dieser erstaunlich unsensiblen Haltung sind zwei Dinge falsch: Erstens sind offensichtlich weder Deutschland noch die Europäische Union in einer Position, solche Forderungen an China zu richten. Beide haben weder Argumente noch die Macht, sie durchzusetzen. In solchen Fällen ist es meist klüger und würdevoller, einfach zu schweigen.
Drohgebärde gegen China auf Dreiergipfel von USA, Japan und Philippinen
Zweitens gilt, wenn auch weniger offensichtlich: Wer ist denn dieser Olaf Scholz, der da versucht, sich in die von Rationalität und Respekt für die jeweiligen nationalen Interessen geprägte Partnerschaft zwischen Moskau und Peking einzumischen? Solange Deutschland wie bisher ein Schauspiel an bedingungslosem und irrationalem Gehorsam gegenüber der US-Regierung in Washington bietet, wird sich niemand für die Ratschläge von Scholz interessieren.
Das war das vorletzte Bonmot. Und nun die Pointe: Der Besuch von Scholz ist selbst ein Ausdruck dessen, dass es dem Westen nicht gelungen ist, China einzuschüchtern. In Deutschland klagen laut einer aktuellen Umfrage zwei Drittel der in China tätigen deutschen Unternehmen über angebliche Ungleichbehandlung im Land der Mitte. Trotzdem sind sie dort und wollen bleiben. Trotzdem kommt ein deutscher Bundeskanzler samt einem Flugzeug voller Wirtschaftsmanager zu Besuch.
Die tiefere Bedeutung der besagten Umfrage liegt darin, dass sie bloßlegt, wie unverzichtbar China für Deutschland ist – ungeachtet des Geredes vom “Verringern der Risiken” und von “Entkopplung”. In nicht allzu ferner Zukunft könnte ein Amtsnachfolger von Scholz zu einer ähnlichen Reise aufbrechen – in Richtung Moskau. Nämlich dann, wenn eine weitere Realität so überzeugend geworden ist, dass niemand mehr an ihr vorbeikommt: Auch Russland lässt sich vom Westen nicht einschüchtern. Und so wie China bleibt auch Russland für Deutschland und ganz Europa unverzichtbar.
Übersetzt aus dem Englischen
Tarik Cyril Amar ist Historiker an der Koç-Universität in Istanbul, befasst sich mit Russland, der Ukraine und Osteuropa, der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, dem kulturellen Kalten Krieg und der Erinnerungspolitik. Man findet ihn auf X unter @tarikcyrilamar .
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