Meinung Aus dem Fantasialand: Der Spiegel und sein Glaube an den “Sieg über Putin”
Allerdings gab es eingestreut Anfälle von Realismus. So schrieb Goebbels schon am 2. Juli 1941: “Insgesamt wird sehr hart und erbittert gekämpft. Von einem Spaziergang kann keine Rede sein. Das rote Regime hat das Volk mobilgemacht.” Und am 1.8.41: “Die Bolschewisten zeigen doch stärkeren Widerstand, als wir vermuteten, und vor allem die materiellen Mittel, die ihnen dabei zur Verfügung stehen, sind größer, als wir angenommen haben.”
Richtig, wäre die heutige russische Armee tatsächlich in dem Zustand, wie die SZ ihn beschreibt, schlecht organisiert und mit völlig veralteten Waffen ausgerüstet, dann wäre die ukrainische Offensive weitaus erfolgreicher. Aber es gibt eben alte, tief sitzende Mythen, die sogar das Wissen um Fakten überwinden. Auch hier gibt es ein Beispiel aus den Monologen im Führerbunker vom 5./6. Januar 1942:
“Drei, vier Tage vorher [vor dem Überfall auf die Sowjetunion] habe ich noch eine Unterredung mit dem Reichsmarschall gehabt: Göring, es wird der schwerste Kampf, den wir je gehabt haben! Göring sagte, wieso, mein Führer?
Etwas hat mich noch bestärkt. Eine deutsche Kommission war zurückgekommen und hat berichtet, ein Werk fabriziere so viel an Panzern, als wir überhaupt aufbringen. Da habe ich mir gesagt, jetzt ist es höchste Zeit! Aber hätte mir einer erklärt, die haben zehntausend Panzer, ich hätte geantwortet: Sind Sie wahnsinnig?
Erfindungen hat der Russe nicht gehabt. Was er hat, hat er alles von anderen. Sämtliche Ingenieure und Werkzeugmaschinen hat er aus dem Ausland.”
Dieser Aberglaube hat sich trotz Sputnik bis heute gehalten. Und auch die Konsequenz, die wider besseres Wissen daraus gezogen wird:
“Waffentechnisch werden wir den anderen immer überlegen sein.”
Diese Zitate geben natürlich nicht das wieder, was damals der Bevölkerung gegenüber erklärt wurde. Die Zweifel und die gelegentlich aufbrechende Erkenntnis, dass man die Lage grundsätzlich falsch eingeschätzt hat, blieben auf enge Kreise begrenzt. So Goebbels in seinem Eintrag vom 19.08.1941:
“Der Führer ist innerlich über sich sehr ungehalten, dass er sich durch die Berichte aus der Sowjetunion so über das Potenzial der Bolschewiken hat täuschen lassen. Vor allem seine Unterschätzung der feindlichen Panzer- und Luftwaffe hat uns in unseren militärischen Operationen außerordentlich viel zu schaffen gemacht.”
Propagandistisch war das ein schwieriges Problem für Goebbels, der schließlich dafür verantwortlich war, dass die Deutschen bei der Stange blieben. Sein Eintrag vom 20.09.41 könnte sich ähnlich in einem aktuellen Tagebuch von NATO-Propagandisten finden.
“Man kann daraus unschwer entnehmen, dass die Labilität in der psychologischen Haltung des deutschen Volkes während des Ostfeldzugs zum großen Teil auf die optimistischen, um nicht zu sagen illusionistischen Darstellungen der Lage im OKW-Bericht zurückzuführen war.
Allerdings ist das auch zum großen Teil darauf zurückzuführen, dass wir eben das bolschewistische Potenzial ganz falsch eingeschätzt haben und aus dieser falschen Einschätzung heraus auch unsere falschen Schlüsse ziehen mussten.”
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Falsche Einschätzungen finden sich heute zuhauf; das ganze Sanktionsdebakel beruht darauf. Seitdem müssen dem Publikum immer wieder ukrainische “Siege” präsentiert werden, um es bei Laune zu halten. Der ganze Wahnwitz der laufenden “Offensive” beruht darauf.
Und selbstverständlich ist die Vorstellung, ganz Russland gehorche nur einem Mann und dessen Fehlen würde zu einem sofortigen Zusammenbruch führen, auch nicht neu, sondern nur recycelt:
“Wenn dem Stalin etwas passiert, bricht das asiatische Großreich zusammen. Genauso, wie es entstanden ist, wird es zerfallen.”
Das war Hitler am 28.08.1942. Man sieht, die Hoffnungen wie die Fantasien haben sich nicht geändert. Die treibende Kraft dahinter ist die gigantische Beute, die ein zerfallendes Russland (ebenso wie zuvor eine zerfallende Sowjetunion) darstellen würde.
“Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren.”
Das sagte Hitler im September 1941. Übrigens hatte er an diesem Tag auch etwas zu den Ukrainern zu sagen: “Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt.” Ein Zitat, das bei den aktuellen Hitler-Anhängern dort mit Sicherheit nicht sehr bekannt ist.
Gegen Ende der Monologe findet sich eine Stelle vom 06.09.1942, die im Grunde alles zusammenfasst, was in den Zitaten zuvor zu sehen war: die Selbstüberschätzung, die Gier, die Bemühung, jede Erkenntnis, die der Verwirklichung der eigenen Pläne im Weg steht, zu verleugnen, selbst wenn sie sich gelegentlich Bahn bricht. Gespräche der NATO in Vilnius könnten ähnlich klingen.
“Die Russen haben einen Fehler gemacht: Sie haben sich auf Stalingrad geworfen! Man kann einen Krieg immer nur gewinnen, wenn der andere mehr Fehler als man selbst macht!”
Nun, wie diese Geschichte endete, ist bekannt, mit einer Unterschrift in Karlshorst unter die bedingungslose Kapitulation. Man sollte annehmen, dass sich eine solche Haltung nicht wiederholt. Oder dass man zumindest innezuhalten imstande ist, sobald sich die eigenen Erwartungen als illusorisch erweisen. Aber nichts in der Spanne zwischen “Die russische Wirtschaft ist in Fetzen” (Ursula von der Leyen) und “die Ukraine muss siegen” deutet darauf hin, dass in dem Spannungsfeld zwischen Hybris und Gier die Vernunft eine bessere Chance hat als beim historischen Vorbild.
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