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Die Rolle ist tot – es lebe die Rolle

Die Rolle ist tot – es lebe die Rolle

Quelle: www.globallookpress.com © Kurt RohwedderElisabeth II. in Königswinter bei Bonn am 19. April 1965

Von Dagmar Henn

Großbritannien ist das Land des Phantomschmerzes. Die Zeiten, in denen die britische Flotte die Weltmeere beherrschte, sind ebenso vorbei wie die, in denen es bengalische Bauern verhungern lassen oder den Chinesen sein Opium aufzwingen konnte. Aber so richtig darüber hinweg, keine Weltmacht mehr zu sein, ist das Land bis heute nicht, und das Sabotagemanöver, mit dem der britische Premier Boris Johnson im Frühjahr einen Friedensschluss der Ukraine verhinderte, hat seine Quelle sicher auch in diesem Phantomschmerz – endlich einmal wieder ein Ereignis beeinflussen zu können, das globale Auswirkungen hat.

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Dass es in England eine Königin gab, ist gleich ein doppelter Phantomschmerz. Denn feudal war England spätestens seit dem Tag nicht mehr, als die Briten Charles I. enthaupteten; das war am 27. Januar 1649. Schon zur Zeit Heinrichs VIII. war die ursprüngliche Aristokratie weitgehend verschwunden; sie hatte dem aufstrebenden Bürgertum den Gefallen getan, sich in den Rosenkriegen fast vollständig auszurotten. Die großen Landbesitzer rekrutierten sich danach aus den Rängen der Londoner Händler. Für das Land sollte sich das als entscheidender Vorteil erweisen – als die industrielle Revolution begann, stellte sich ihr dort nichts und niemand mehr in den Weg.

In den Jahrhunderten danach gab es Könige und Königinnen, die immer einen Anteil an der weltweit eingeheimsten Beute erhielten (als ein Beispiel dafür ziert ein Brillant die Krone der britischen Monarchin, der Koh-i-Noor), aber politisch hatten und haben sie nichts zu sagen. Die Reden, die sie zur Eröffnung jeder Parlamentsperiode halten, werden zuvor vom Premier geschrieben. Was also bleibt, ist eine Rolle, die man mit der des Bundespräsidenten vergleichen könnte, mit einigen Dreingaben.

Allerdings ist es eine Rolle, die nicht von der Geschichte dieses ehemaligen britischen Reiches zu trennen ist, nicht vom Sklavenhandel, nicht von der Plünderung Indiens und von den Opiumkriegen. Es ist die Rolle in einer langen, bluttriefenden Geschichte, die Voraussetzung wie dann auch Produkt der Tatsache war, dass von hier die Entstehung der Industrie ihren Ausgang nahm. Die Rolle steht weit mehr für die Vergangenheit als für die Zukunft; sie ist die pathetische Inszenierung einer vermeintlichen Größe, die den Blick auf die begangenen Verbrechen erfolgreich verstellt.

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Die Person Elisabeth II. ist dabei im Grunde unbedeutend. Gab es diese Person? Vielleicht in der kurzen Zeit, in der sie im zweiten Weltkrieg Fahrzeuge reparierte, oder – wenn sie Glück hatte – eventuell an einem ruhigen Abend, mit einer vertrauten Kammerzofe im Jogginganzug auf dem Sofa lümmelnd, Fußball schauend und Chips knabbernd. Aber ansonsten gab es sie wohl eher nicht. Es gab die Rolle – fleischgewordenes Protokoll zur Betäubung des Phantomschmerzes.

Dass sie bei den Briten populär werden konnte, hat wohl damit zu tun, dass das Ende des britischen Empire für die gewöhnlichen Bewohner Vorteile brachte – es begann die Zeit der großen Sozialreformen; sozialer Wohnungsbau trat an die Stelle der oft schäbigen Häuser (eine recht gute Darstellung findet man in der Serie “Call the Midwife”), die staatliche Gesundheitsversorgung NHS wurde eingeführt. Diese Entwicklung geschah zu Beginn ihrer Amtszeit, weshalb sie, obwohl daran nicht beteiligt, für die ärmeren Teile des Landes zum Symbol einer Zeit wurde, als Britannien für sie in Ordnung war. Das führte dann zu einem Kompromiss mit einem Symbol, das in den Jahrzehnten davor noch abgelehnt worden war.

Übrigens könnte es sein, dass sie selbst ähnlich gedacht hat. Gerüchte (jede politische Äußerung ist dieser Rolle strikt verboten) besagten, sie habe Labour vorgezogen und Maggie Thatcher verabscheut. Insofern dürfte es ihr kein Vergnügen gewesen sein, vor dem Lebensende noch der hirnlosen Thatcher-Imitatorin Liz Truss zu begegnen. Aber weil das jenseits der Rolle liegt, bleiben es Vermutungen.

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Es ist erstaunlich, dass ihr Ableben jetzt so viele Gefühle auszulösen scheint. Schließlich kennt man nur die Wiedergabe in der Klatschpresse, die Millionen damit verdient hat, sich mit dem Beziehungsleben ihrer gesamten Familie zu befassen. Wobei der Grundkonflikt ein sehr technischer ist. Die jüngere Generation, bei ihren Kindern angefangen, hätte gerne ein Privatleben – etwa so, wie ihre Schwester Margaret es hat. Das ist aber mit der vorgegebenen Rolle nicht vereinbar. Zumindest nicht mehr im ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhundert, in dem das entstehende “Material” an “Informationen” schlicht zu wertvoll ist, um nicht verwertet zu werden. Dabei wäre der Konflikt einfach zu lösen. Ohne die Rolle gäbe es ihn nicht.

Und die Rolle ist bizarr. Sie besteht an ihren Gipfelpunkten (Hochzeiten beispielsweise) in der Zurschaustellung eines Prunks, der ihnen, den “Royals”, zu großen Teilen nicht einmal gehört, und der bar jeder Dimension ist, wenn man berücksichtigt, dass sie nach ihrem tatsächlichen privaten Besitz nicht einmal zu den reichsten Familien der Welt gehören (das Privatvermögen der Queen wurde auf 425 Millionen Euro geschätzt), sondern im Vergleich etwa zu einem Bill Gates arme Schlucker sind.

Die Briten waren nämlich in ihrer konstitutionellen Zügelung der Monarchie ziemlich gründlich. Der Landbesitz der Royals ist zwar sehr umfangreich, über tausend Quadratkilometer, steht aber unter staatlicher Verwaltung, und nur ein Teil der Erträge geht an die formellen Eigentümer. Das wurde bereits im Jahr 1702 so festgelegt. Auch hier treffen also andere die Entscheidungen. Und die 86 Millionen Pfund, die der Staat als Anteil an die Familie überweist, entspricht in etwa dem Doppelten dessen, was im Bundeshaushalt für das Büro des Bundespräsidenten vorgesehen ist. Die zweite wesentliche Einnahmequelle, aus der die Familienangehörigen des Amtsinhabers versorgt werden, das Herzogtum Lancaster auf den Cayman Islands und Bermuda, stellt ein Vermögen von 652 Millionen Pfund dar, ist aber mit einem Ertrag von 24 Millionen, was einer Verzinsung von 3,6 Prozent entspricht, nicht gerade überwältigend.

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Natürlich kann es sein, dass da auch noch Aktienpakete oder andere Besitztümer irgendwo liegen, die nicht der staatlichen Aufsicht unterstellt sind. Aber prinzipiell ist da mehr Schein als Sein, und auf keiner Ebene, außer vielleicht bei der Wahl der Farbe des Kostüms, haben die Darsteller irgendetwas zu entscheiden.

Aber genau diese Konstruktion könnte der Grund sein, warum diese Familie noch nicht auf die naheliegende Idee gekommen ist, die Rolle schlicht aufzukündigen. Denn dann würden womöglich auch diese “bescheidenen” Mittel nicht mehr fließen und das faktische Staatseigentum in formelles übergehen, weil da niemand mehr ist, den man sich zu Repräsentationszwecken hält.

In Zeiten, als das Liebedienern vor Milliardären noch nicht bis in alle Redaktionen vorgedrungen war, waren es die Zeitschriften der “yellow press”, hierzulande diese Heftchen für ältere Damen namens Goldenes Blatt oder Frau mit Herz, die vermittels der Berichterstattung über alle möglichen Royals die Armen lehrten, die Reichen zu bewundern (wobei privates Leid immer besonders betont werden musste, um das Mitgefühl zu erhalten). Dann kamen erst, mit der Wiederbelebung von Hollywood, die Klatschgeschichten über Film- und Rockstars, und zuletzt wurden dann Gestalten wie Bill Gates zu Objekten der Bewunderung erklärt.

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Das im Inneren relativ egalitäre Westeuropa hatte sich über diesen Klatsch eine Brücke in eine Welt der Ungleichheit bewahrt, die begangen und erweitert werden konnte und auch wurde. Das ist vielleicht die negativste Wirkung, die von dieser Rolle und ihresgleichen ausging. Denn welchen Grund sollte es geben, jemanden dafür zu bewundern, dass er in einer goldenen Kutsche fährt? Bewundernswert an einer solchen Kutsche ist höchstens die Kunstfertigkeit der Hersteller, aber nicht der Insasse. Die Erhaltung eines solchen Relikts aus der Vergangenheit macht es nur leichter, die Zustände der Vergangenheit wieder zurückzubringen.

Mit der unbekannten Person Elisabeth hat das alles wenig zu tun. Die einzige Handlungsoption, die sie gehabt hätte, wäre gewesen, das Amt zu verweigern. Die Person wurde von der Rolle vertilgt. Das ist, bei allem Gepränge, eine Lage, die man niemandem wünschen würde.

Der Grund, warum Elisabeth II. in ihren Nachrufen so gepriesen wird, liegt eher in der Gegenwart als in ihrer Geschichte. Die augenblickliche Mode scheint zu sein, dass die Ämter hinter den Personen verschwinden, wie im Falle von Annalena Baerbock und Robert Habeck, die im Gegensatz zur Verstorbenen zwar Ämter mit wirklicher Entscheidungsbefugnis besetzen, aber weder die Fähigkeiten für das Amt noch die Selbstwahrnehmung besitzen, zwischen der zugemuteten Aufgabe und ihrem Selbst zu unterscheiden.

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In einer Ära kindlicher Idioten wirkt jemand, der sich so wie Elisabeth von ihrer Rolle vereinnahmen ließ, wie ein erwachsenes Gegenbild. Aber letztlich ist es nur eine unterschiedliche Art von Gefangenschaft in einem Rollenspiel. Es ist die Sehnsucht nach einem Hauch von Pflichtbewusstsein bei den jetzigen Verantwortlichen, die dazu führt, die Verpflichtung an eine Simulation, die das Leben einer Elisabeth Windsor (bis 1917 noch Sachsen-Coburg und Gotha) dominierte, zum Vorbild zu erklären.

Nur geht diese Erwartung fehl, denn selbst wenn sie subjektiv ihre Rolle als “dem Volke dienen” beschrieb, tat sie es objektiv nicht, sondern bewahrte den Phantomschmerz des verlorenen Empire. Ein Phantomschmerz, der jetzt gerade den gesamten absteigenden Westen beherrscht, dem selbst nichts ferner liegt als das Volk. Selbst wenn sie, im Gegensatz zu ihren Klassengenossen, mit einer Formulierung zumindest andeutete, sich der Obszönität des Reichtums bewusst zu sein – die menschliche Freiheit liegt, auch wenn das gerade nicht in Mode ist, in der Gleichheit, und es ist das Volk selbst, das dem Volk am besten dient.

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