Gaza-Konflikt: Grünen-Politiker Beck zeigt FC Bayern-Profi Mazraoui wegen falscher Solidarität an
Der Politiker spielt eine gänzlich andere Rolle. Er darf eben nicht launisch agieren, von kurzfristigen Emotionen geleitet und eskalierend. Er muss Besonnenheit zeigen, muss seine Worte und Taten durchdenken, abwägen, welche Reaktion seinerseits wohin führt. Das ist ein Aspekt der Kunst der Diplomatie. Der Politiker muss also möglichst beide Perspektiven einnehmen, ohne sich für eine zu entscheiden. Er muss aus der Kenntnis der Perspektiven Handlungen ableiten, die zu einer Lösung führen können.
Nun ist das leider zutiefst graue Theorie geworden, denn deutsche Politiker haben weder den Willen noch die Kompetenz, so zu agieren, wie es gerade beschrieben wurde. Sie sind mit Haut und Haar im Distanzierung-Positionierung-Modus, was sie anfällig macht für eskalierende und hochgradig dumme Entscheidungen, denen allerdings durchdachte Pläne vorausgehen.
Das Gegenmodell: Keine Positionierung
Vor lauter Positionieren und Distanzieren gerät eine simple Tatsache in den Hintergrund: nichts, aber auch gar nichts, wird dadurch besser, im Gegenteil. Erst kürzlich hat Wladimir Putin in einer Rede gesagt:
“Aber wir sollten uns nicht, dazu haben wir kein Recht und wir können es uns nicht leisten, von Emotionen leiten lassen.”
Doch, schallt es aus dem Westen, wir lassen uns von unseren Emotionen leiten! Und wir sinnen auf Rache, wenn die Gegenseite etwas tut, das uns nicht passt. Auch zum Thema Rache hat Putin klare Vorstellungen:
“Wir sehen auch, dass leider der Grundsatz der kollektiven Verantwortung dazu benutzt wurde, Rache zu üben, anstatt die Verbrecher und Terroristen zu bestrafen. Die schrecklichen Ereignisse, die sich derzeit im Gazastreifen abspielen, wo Hunderttausende von unschuldigen Menschen, die einfach nirgendwo hinlaufen und sich nicht vor dem Bombardement verstecken können, wahllos abgeschlachtet werden, sind in keiner Weise zu rechtfertigen. Wenn man blutige Kinder sieht, wenn man tote Kinder sieht, wenn man sieht, wie Frauen und alte Menschen leiden, wenn man sieht, wie Ärzte sterben, dann ballt man natürlich die Fäuste und hat Tränen in den Augen. Anders kann man es nicht sagen.”
Und so fällt bei all dem Positionieren eine Position aus dem Blickfeld: die der Opfer, der Menschen, die mit dem Krieg – mit jedem Krieg – nichts zu tun haben, die unter ihm leiden, die sterben. Nachdem Israel ein Flüchtlingslager angegriffen und dabei Zivilisten getötet hatte, sagte ein Sprecher der Armee:
“Das ist die Tragödie des Krieges.”
Man kann dieser Aussage gar nicht laut genug widersprechen! Die Tragödie des Krieges ist der Krieg selbst, und der Krieg selbst ist kein Naturereignis, sondern die Folge menschlichen Handelns. Putin hat recht, wenn er sagt, dass man sich nicht von Rache leiten lassen dürfe, doch genau die dominiert die Entscheidungsträger in Israel, aber auch in Deutschland. Das hängt mit der emotionalisierten Positionierung zusammen, die irrational und schädlich ist.
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Nun kann man mit viel Wohlwollen bis zu einem gewissen Punkt das Sinnen nach Rache auf israelischer Seite noch hinnehmen (wenngleich dieser Punkt inzwischen längst und deutlich überschritten wurde), man kann also aufgrund der eigenen Betroffenheit Israels auch auf der politischen Ebene eine Form der Emotionalisierung als zumindest nachvollziehbar bezeichnen. Doch insbesondere die gespielten Gefühlsausbrüche in Deutschland sind erstens nicht glaubwürdig und zweitens destruktiv.
Die Rollen in einem Krieg sind recht klar verteilt. Es gibt meist einen Angreifer und einen, der sich verteidigt. Wie man Verteidigung definiert, ist längst nicht mehr klar, denn sie wird mittlerweile auch mit offenen Angriffen in Verbindung gebracht, und seit dem 7. Oktober sogar mit der “Tragödie des Krieges”, dass Frauen und Kinder getötet werden. Dieser Punkt schreit nach einem Einschreiten und nach einer erneuten Ausrichtung des moralischen Kompasses.
Für diese Ausrichtung wäre die dritte Rolle des Krieges auszufüllen, die Rolle der unbeteiligten dritten Partei. Diese kann und darf sich nicht positionieren, sie kann und darf keine Partei ergreifen, sondern muss sich ausschließlich auf Lösungen fokussieren. Denn erst, wenn wir aufhören, uns für eine Seite zu entscheiden, können wir uns um das Kriegsende kümmern. Wir, das ist Deutschland, das sind aber auch andere Länder, deren Verantwortung darin besteht, Wasser statt Öl ins Feuer zu gießen.
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Positionierung bedeutet Krieg
Zum Schluss noch ein paar Worte zur Erwartung der Positionierung als solche. Wie oben schon angedeutet, hat ihre Bedeutung nichts mit Moral, Gerechtigkeit oder Hilfsbereitschaft zu tun. Sie dient ausschließlich der Verschlimmerung der Lage. Zumal die Rhetorik in Deutschland aggressiv und unversöhnlich ist und nur eine militärische Lösung in Aussicht stellt. Wer jedoch so denkt und argumentiert, muss als Kriegstreiber bezeichnet werden, denn er trägt nicht zur Konfliktlösung bei, sondern zur Fortsetzung von Kampf, Hunger und Tod.
Die Positionen von Israel und Palästina sind klar und derzeit unversöhnlich. Daran tragen andere Länder eine Mitschuld. Und so wäre es in ganz besonderem Maße ihre Pflicht, versöhnliche Töne anzuschlagen. Bei einem Konflikt dieses Ausmaßes kann es keine schnellen Lösungen geben, aber das Verhalten Außenstehender trägt dazu bei, zumindest lösungsorientiert zu denken und zu handeln. Der subjektiven Betroffenheit der Kriegsparteien muss mit objektiver und friedfertiger Unaufgeregtheit begegnet werden. Das ist eine große Verantwortung, und wer noch ein wenig diplomatisches Blut in seinen Adern fließen lässt, nimmt diese Herausforderung an, statt einen Gewehrlauf auf sie zu richten.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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