Niemand sollte überrascht sein, dass die Türkei gegen die Asowstal-Vereinbarung verstoßen hat, zumal die meisten Beobachter davon ausgegangen waren, dass diese faschistischen bewaffneten Banden wahrscheinlich doch vor dem Ende des Kriegs in der Ukraine freigelassen werden, nachdem sie aus russischer Kriegsgefangenschaft in die Türkei abgeschoben wurden. Dennoch muss diese Entwicklung für den russischen Präsidenten zutiefst enttäuschend gewesen sein, der zuvor oft die persönliche Integrität seines türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdoğan in höchsten Tönen gelobt hatte. Zum Beispiel das, was er im Dezember 2020 sagte:
“Wir haben mit Präsident Erdoğan in bestimmten Angelegenheiten unterschiedliche, teilweise auch gegensätzliche Ansichten. Aber er hält sein Wort wie ein aufrechter Staatsmann. Er wedelt nicht mit dem Schwanz. Wenn er denkt, dass etwas gut für sein Land ist, dann handelt er entsprechend. Hier geht es um Vorhersehbarkeit. Es ist wichtig zu wissen, mit wem man es zu tun hat.”
Fast zwei Jahre später, im Oktober 2022, sah es Präsident Putin immer noch genauso:
“Präsident Erdoğan ist ein beständiger und verlässlicher Partner. Das ist wohl seine wichtigste Eigenschaft, dass er ein verlässlicher Partner ist. Wir wissen: Nachdem wir einen schwierigen Weg zurückgelegt haben und es schwierig war, zu einer Einigung zu kommen, wir aber ebendiese Einigung trotzdem erreicht haben, dann können wir sicher sein, dass diese Einigung auch so in Kraft treten wird.”
Kurz darauf, Anfang Dezember 2022, gab die frühere deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel zu, dass ihre öffentlich verlautbarte politische Unterstützung für das Minsker Abkommen nur eine Finte war, um Zeit für die Aufrüstung der ukrainischen Streitkräfte zu gewinnen – für die geplante Rückeroberung des Donbass. Der russische Präsident Putin vertraute bis dahin ebenso sehr darauf, dass Merkel aufrichtig zu ihren Erklärungen stehen würde, wie er es im Fall von Präsident Erdoğan getan hatte. Deshalb zeigte er sich auch von Merkels Eingeständnis zutiefst enttäuscht, wie Putin es während einer Pressekonferenz im Dezember 2022 zu erkennen gab:
“Ehrlich gesagt hatte ich nicht damit gerechnet, so etwas von der ehemaligen Bundeskanzlerin zu hören, weil ich immer davon ausging, dass die Staatsoberhäupter der Bundesrepublik Deutschland uns gegenüber stets aufrichtig waren. … Augenscheinlich haben wir uns – offen gesagt – zu spät zurechtgefunden.”
Russlands Strategie bestand bis zum Beginn seiner militärischen Sonderoperation darin, mit den USA eine Einigung über die Ukraine zu erzielen, die Moskaus Sicherheitsbedürfnisse auf friedliche Weise erfüllt und gleichzeitig ermöglicht hätte, dass Russland weiter als wirtschaftliche Brücke zwischen der EU und China agieren kann. Dies war, im Nachhinein betrachtet, von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil Putin – der weder ein Monster noch ein Verrückter und auch nicht der Strippenzieher ist, als den er im Westen stets karikiert wird – seine eigene, rationale Weltsicht auf den Westen projizierte.