Meinung

Einer nimmt Journalisten fest, der andere ist an der Front – das Märchen vom doppelten Putin

Einer nimmt Journalisten fest, der andere ist an der Front – das Märchen vom doppelten Putin

Quelle: www.globallookpress.com © Kremlin PoolMontage

Von Dagmar Henn

Das ist eine der Arten, wie sich der Westen im Umgang mit Russland immer wieder selbst das Bein stellt: Geheimnisse zu suchen, wo keine sind. Die Begeisterung, mit der die deutsche Medienlandschaft die ukrainische Behauptung aufgegriffen hat, es sei gar nicht Wladimir Putin selbst gewesen, der die russischen Truppen an der Front besucht habe, ist ein typisches Beispiel dafür.

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Und der Welt-Reporter Christoph Wanner liefert ein besonders nettes Exemplar: “Ich weiß das letztlich auch nicht, ob da Doppelgänger im Spiel sind, und ob der russische Präsident all diese ganzen Reisen ins Kriegsgebiet selbst gemacht hat. Das große Problem, das wir haben, ist, dass wir da alle im Nebel stochern. Das Leben von Wladimir Putin ist de facto ein großes Geheimnis, da kommt man nicht ran.”

Es ist zwar faktisch schwer vorstellbar, wenn man die vielen öffentlichen Termine des russischen Präsidenten betrachtet, wo er in diesem Terminkalender noch Geheimnisse unterbringen soll – das einzige, das vielleicht noch Platz hätte, wäre ein klein wenig Privatleben –, aber es ist eine zentrale Vorstellung der gesamten Berichterstattung: Die russische Politik ist nicht das, was man sieht, sie besteht eigentlich nur aus der Person Putins, und darum muss diese Person ein Geheimnis sein.

Diese Legende funktioniert, weil die wirklichen Reden Putins sowie die wirklichen politischen Beschlüsse des russischen Parlaments einfach nicht wiedergegeben werden; allerhöchstens ein, zwei Sätze, oft auch noch in ihrer Bedeutung verdreht, wie bei der vielfach vorgeworfenen “nuklearen Drohung”. Wäre es anders, würde man entscheidende Reden nach wie vor im Original abdrucken, dann würde auffallen, dass zwischen den Aussagen und den Handlungen kein Widerspruch besteht. Was auch damit zu tun hat, dass diese Aussagen in der Regel sehr konkret sind; anders als das in Deutschland übliche Wertegeschwalle, das die Kollision mit der Wirklichkeit durch maximale Unschärfe vermeidet.

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Es darf schlicht keine rationale, nachvollziehbare Politik sein. Schon gar keine Politik, die von einer breiten parlamentarischen Mehrheit getragen wird, die tatsächlich über manche Themen über Jahre debattiert. Der Antrag, die Donbassrepubliken anzuerkennen, wurde von der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) acht Jahre lang immer wieder eingebracht, bis er letztlich beschlossen wurde. So viel politische Normalität steht dem Bild im Weg, das man zur Erschaffung eines Feindes braucht.

Also muss alles Putin persönlich sein. So wie Außenministerin Annalena Baerbock jüngst behauptete, Putin habe einen Journalisten festgenommen. Und weil alles Putin persönlich ist, es nicht einmal eine Mannschaft um ihn herum gibt (egal, wie laut sich Dmitri Medwedew zu Wort meldet), kann natürlich ein Putin nicht reichen. Schon allein deshalb nicht, weil der finstere, irre Diktator sich vor den Menschen fürchten muss (eine Behauptung, die auch schon in Bezug auf Josef Stalin aufgestellt wurde und die letztlich auf Geschichten über Iwan den Schrecklichen oder Grigori Rasputin zurückgeht). Zwölf Tage müsse man in Quarantäne, ehe man Putin treffen dürfe, wird allen Ernstes behauptet. Auch wenn feststeht, dass weder der chinesische Verteidigungsminister noch andere Staatsgäste der jüngsten Zeit zwölf Tage Zeit hatten. Diese Idee ist vermutlich ein Relikt aus dem Jahr 2021, als der französische Präsident Macron an diesen ganz langen Tisch gesetzt wurde. Das musste seinen Grund in irgendeiner Verrücktheit haben, denn der Westen ist gut und liebenswert …

In der wirklichen Welt wäre Baerbock wesentlich leichter zu doubeln als Putin, denn niemand würde intelligente, kenntnisreiche Antworten erwarten. Wenn man einmal die jährliche Fragerunde von Putin gesehen hat, kann man sich nur schwer vorstellen, an seine Stelle jemanden zu setzen, der ihm nur ähnlich sieht. Das könnte nur funktionieren, wenn das Double gleichermaßen intelligent wäre.

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Intelligenz ist allerdings ein Stichwort, das in der ganzen Geschichte eine besondere Rolle spielt. Es ist nämlich nicht so, dass besondere Intelligenz beliebt macht, nicht in Deutschland. Im Gegenteil, sie löst bei vielen wüste Ängste aus, was sich dahinter verbergen könnte. Wie der Dunning-Kruger-Effekt dafür sorgt, dass besonders dumme Menschen besonders selbstsicher sind, gibt es ein bisher unbenanntes Gegenstück, nach dem besonders intelligenten Menschen unterstellt wird, stets andere als die geäußerten Absichten zu verfolgen. Schlicht, weil die Dummen diese Absichten nicht nachvollziehen können, selbst wenn sie offen auf dem Tisch liegen.

Nun ist das gesamte politische System des Westens mittlerweile eine Negativauslese, bestückt mit besonders eitlen, dummen, lenkbaren Personen. Sie halten ihr aufgeblasenes Geschwalle tatsächlich für politische Aussagen und unterstellen deshalb automatisch finstere Absichten, wenn diesem Muster nicht gefolgt wird. Und es gibt keinen Grad an Transparenz und Offenheit, der an dieser Reaktion etwas ändern kann; nur, wenn sie auf ein Gegenüber treffen, das ebenso eitel, dumm und lenkbar ist, verstummt ihr Misstrauen. Das liegt schlicht daran, dass sie spüren, dem anderen nicht das Wasser reichen zu können; man denke nur an die geradezu hasserfüllten Blicke, die Baerbock im Dezember 2021 auf Sergei Lawrow warf.

Dass diese Mischung aus leeren Köpfen für den Westen steht, zeigt, dass das politische System nicht mehr angemessen funktioniert. Der Mechanismus, der das Personal für die führenden Stellen bestimmt, ist durch die langfristigen Folgen gepredigter politischer Apathie wie durch die Wirkung der Einflüsse von Großspenden und der Ersetzung politischer Debatte durch Werbekampagnen so weit verzerrt, dass diejenigen, die nach oben gelangen, dies vor allem tun, weil sie sich fraglos in Vorgaben einpassen und sich die anderen Dummen von ihnen nicht bedroht fühlen. Die Funktion, die sie eigentlich erfüllen sollten, können sie nicht mehr erfüllen.

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Und die Medien? Sind so sehr im Gleichklang mit diesen politischen Chargen und so sehr daran gewöhnt, die wirkliche Arbeit der Vermittlung von Kenntnissen nicht mehr leisten zu müssen, dass sie solche Wahnvorstellungen gerne aufgreifen und wiedergeben. Von Putin, dem finsteren Potentaten, dem verängstigten Alleinherrscher, der seine Doppelgänger schickt.

Dabei wäre das entscheidende Motiv, Doppelgänger einzusetzen, einzig die Propaganda. Die russische Medienlandschaft ist aber nicht halb so sehr auf Propaganda ausgerichtet wie die deutsche, von der ukrainischen ganz zu schweigen. Putins Besuch an der Front ist eine kurze Mitteilung, mehr nicht; niemand fühlt sich veranlasst, daraus Heldengesänge zu zimmern, wie das regelmäßig um den ukrainischen Präsidentendarsteller geschieht. Aber natürlich bedroht die Tatsache, dass Putin ganz einfach dort aufschlägt, die Erzählung, die man um die Kiewer Marionette gesponnen hat, die ja so unglaublich mutig ist. Also muss man mal wieder in die Kiste mit den Doppelgängern greifen.

Dabei wäre es andernorts eine wirklich gute Idee. Ein oder zwei nicht demente Doppelgänger für US-Präsident Joe Biden könnten der Welt unzählige Peinlichkeiten ersparen, und der Greis könnte seine Tage in einer Umgebung verbringen, die er kennt. Das wäre auch keine allzu große Herausforderung – schließlich müssten sie nur ähnlich aussehen und ganze Sätze sagen können. Nachdem auch das Personal der US-Regierung auf dem Niveau der deutschen dümpelt, könnte es sogar sein, dass ein solcher Austausch niemandem auffiele.

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