Quelle: RT
von Wladislaw Sankin
Es war Samstag am späten Nachmittag, aber schon strömten alle zehn Minuten aus der ankommenden S-Bahn an der Station im Berliner Olympiapark hunderte Fahrgäste, die dann alle den gleichen schmalen Weg vorbei an den Sportanlagen rechts und links bergauf gingen, um sich nach einem 10-minütigen Spaziergang einer Riesenschlange vor den Eingängen anzuschließen. Alle Besucher dem Wetter entsprechend so leicht wir nur möglich bekleidet, hier und da noch ein winziges Täschchen. Menschen jeden Alters und jeglicher sozialer Zugehörigkeit darunter – ein Hinweis, dass die Menschen zumindest nicht zu einem Rock-Konzert oder Fußball-Spiel gekommen waren. Anlass für ein so zahlreiches Erscheinen war ein herausragendes Musik-Event in der Berliner Waldbühne.
Am Ende waren es zum Beginn um 20:15 Uhr wohl etwa 22.000 Berliner oder Gäste der Stadt, die zu einem klassischen Konzert im Amphitheater der größten Freilichtbühne der Hauptstadt versammelt waren, um die Stücke von drei russischen Komponisten Anatoli Ljadow, Sergei Rachmaninow und Modest Mussorgski zu hören. Solche Massen kann auch ein klassisches Konzert anziehen, wenn die Schönheit des Ortes, das Renommee des Veranstalters und die Qualität der Musik wie der Interpreten zusammenspielen, wie es beim diesjährigen Abschlusskonzert der Berliner Philharmonie der Fall war.
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Das Programm des restlos ausverkauften Konzerts war sehr geschickt abgestimmt. Zum Warmwerden gab es die kurze sinfonische Dichtung aus der Welt russischer Märchen, die “Kikimora” von dem leidlich bekannten, aber nicht besonders berühmten Vertreter der russischen Spätromantik Anatoli Ljadow, einem Schüler von Nikolai Rimski-Korsakow. Damit genossen die Zuhörer schon ihr erstes wohliges russischen Klangbad, das sich heute fast wie eine Filmmusik zur Geschichte eines slawischen Poltergeistes anhört. Komponiert wurde das Stück im Jahre 1905 der ersten russischen Revolution.
Auf “Kikimora” folgte das Zweite Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow. Das im Jahre 1901 in Moskau uraufgeführte Konzert ist seitdem wohl eines der meistgespielten Klavierkonzerte überhaupt. Mit seiner Verkörperung spätromantischer Melodik stellt es wohl ein ausgesuchtes Stück für das musikalische Klanguniversum der Menschheit dar. Es ist nicht übertrieben zu vermuten, dass beinahe jeder Nutzer der modernen Medien beim Anspielen aus allen drei Sätzen des Konzerts zugeben würde, diese Töne schon mal irgendwann einmal gehört zu haben. Die Solo-Partien des Klaviers wurden vom Pianisten Kirill Gerstein mit russischen Wurzeln gespielt, der für seinen Kollegen, den russischen Star-Pianisten Daniil Trifonow wegen dessen Armverletzung kurzfristig eingesprungen war.
Eigentlich würde bei jedem anderen Konzert Rachmaninows Meisterwerk zum Hauptpfeiler des abendlichen Programms werden können, aber nicht bei diesem. Nach der Pause wartete ein weiteres Klangfeuerwerk auf das Publikum – mit dem von Maurice Ravel orchestrierten Klavierzyklus von Modest Mussorgski aus dem Jahr 1874. Dieses aus zehn Bildern bestehende gut halbstündige Stück des russischen Komponisten ist nach heutiger Meinung vieler Musikhistoriker das Musterbeispiel für eine Programmmusik. Auch wird es bis heute gerne in der Schule und Musikpädagogik verwendet, was die erstaunlich vielen anwesenden Kinder bei dem Konzert sicherlich sehr erfreute.
Mit seinem Meisterwerk war Mussorgski allerdings zu den Lebzeiten seiner Zeit voraus. Die fehlende Anerkennung für seine Musikexperimente war einer der Gründe für den späteren Absturz des Komponisten in Alkoholismus und seinen frühen Tod im Jahre 1881. Weltberühmt wurde Mussorgski schließlich nicht zuletzt durch die Nachbearbeitung seines fragmentarischen, aber dennoch nicht weniger inspirierenden musikalischen Erbes durch Freunde des Komponisten wie Rimski-Korsakow oder solche Nachfolger und Verehrer seines Talents wie Ravel.
Die französische Impressionisten der Jahrhundertwende Maurice Ravel oder Claude Debussy betrachteten Mussorgski als einen der Vorboten ihrer Musik, und es war kein Zufall, dass es ausgerechnet Ravel gelang, das Orchesterhafte in der Klaviermusik von Mussorgski in seiner Partitur aus dem Jahr 1922 am bestem zum Ausdruck zu bringen. Nun lag es am Orchester unter dem langjährigen Chef-Dirigenten der Berliner Philharmoniker Kirill Petrenko in der Abenddämmerung der Berliner Waldbühne neben zartem Vogelgezwitscher aus den umstehenden Bäumen ein musikalisches Mysterium hervorzuzaubern. Es war schon einzigartig zu sehen, wie zehntausende Menschen in atemloser Stille eine musikalische Achterbahn zwischen Spaß, Genuss und seligem Erschauern ausgesetzt waren um am Ende – nach dem Abschlussbild der Ausstellung “Das Tor von Kiew” die angestaute Begeisterung mit stehendem Applaus zu entladen.
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Statt sich vor dem Publikum zu verbeugen und abzutreten, drückte der Dirigent nach wenigen Minuten der Begeisterung noch einmal mit einer kurzen Anspielung an den “Tanz der Zuckerfee” (Andante maestoso; G-Dur; C-Takt am Ende des II. Aktes im Ballett “Nussknacker”) des unsterblichen Pjotr Tschaikowski noch einmal gnadenlos auf die Tränendrüsen der Zuhörer. Das virtuose Spiel mit den Gefühlen der Zuhörer war damit aber noch immer nicht zu Ende. Mit seinem Taktstock wandte sich der musikalische Verführer Petrenko zum Publikum, weil er wusste, dass ihm mit dem nun folgenden Stück tausende dankbare Berliner als ein riesiges Instrument zur Verfügung stehen würden. Der Operetten-Marsch, nein, der Gassenhauer von vor jetzt genau hundert Jahren “Berliner Luft” von Paul Lincke war damit die wohl gelungenste Krönung für die Gastgeber dieses ansonsten komplett russischen Abends unter dem Berliner Himmel.
“Ein Russe dirigiert die Werke dreier Russen. Und am Klavier sitzt? Ein Russe! Es scheint, als wollten die Berliner Philharmoniker ein für alle Mal klarstellen, dass russische Kultur hierzulande nicht gecancelt wird” , schrieb der BR zu der in mehreren öffentlich-rechtlichen Medien übertragenen Veranstaltung.
Ja, das ist so. Aber dahinter steckt keine Laune der Stunde, sondern das über die Jahre erprobte Konzept des 50-jährigen gebürtigen Russen. In seiner Rolle eines musikalischen Brückenbauers sorgt Petrenko in Berlin dafür, dass die deutsche Bundeshauptstadt so viel wie möglich von der russischen Musikkultur mitbekommt. Aber sein musikalischer Interessenbereich liegt natürlich nicht nur in seiner russischen Heimat. Immer wieder überrascht Petrenko sein Publikum mit interessanten Entdeckungen – quer durch alle Länder und Musikepochen. Wegen seines Einsatzes für das reichhaltige Kulturleben in der Hauptstadt sorgt der stets gut gelaunt wirkende Chefdirigent dafür, dass er mit jedem Jahr bei den Berlinern immer beliebter wird. Das Abschlusskonzert der diesjährigen Saison in der Berliner Waldbühne war dafür ein überzeugender Beitrag.
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