Quelle: www.globallookpress.com © Jochen Tack via www.imago-images Erdbeerernte in Gewächshaus, Dormagen, 22. April 2021
Von Dagmar Henn
Das menschliche Gehirn ist ein ungeheurer Luxus. Es verbraucht ein Drittel der aus der Nahrung gewonnenen Energie, und die dafür erforderliche Größe des Kopfes führte dazu, dass menschliche Babys im Grunde zu früh geboren werden, weil sie sonst nicht mehr durch den Geburtskanal kämen, und dass menschliche Mütter, anders als bei Säugetieren üblich, bei einer Plazentaablösung verbluten können, weil die Schranke zwischen mütterlichem und kindlichem Blutkreislauf fallen musste, um die Versorgung dieses überaus gierigen Organs sicherzustellen.
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Der Preis ist also hoch, dementsprechend müssen die Vorteile enorm sein. Und sie sind es – die Menschen sind die einzigen Säugetiere, die ihre eigene Umwelt schaffen. Die es geschafft haben, nicht nur trotz körperlicher Verwundbarkeit zu überleben, sondern erst über die Jagd, dann über Ackerbau und Viehzucht ihre Ernährung so weit abzusichern, dass sie sich in großen Zahlen vermehren konnten, und dabei dennoch genug Überschüsse erwirtschafteten, um Kulturen zu schaffen, die Jahrhunderte überstehen.
Viele Punkte sind nach wie vor unklar und umstritten. Kam erst der Werkzeuggebrauch und dann der aufrechte Gang oder umgekehrt? Erst die Sprache und dann die geistige Entwicklung? Letztlich griffen all diese Faktoren ineinander. Die Erfolge bei der Jagd, die aus Werkzeuggebrauch und Kooperation resultierten, sorgten für die bessere Versorgung mit Proteinen, die wiederum die Voraussetzung für das Wachstum des Denkorgans war, das wiederum Werkzeuggebrauch und Kooperation verbesserte. Es ist also möglich, dass es nie eine Antwort auf die Frage geben wird, was zuerst kam, weil die Wechselwirkungen zu stark sind.
Die Entwicklung von Kultur wirft ähnliche Fragen auf. (Dabei möchte ich auf ein sehr spannendes, wenn auch schon älteres Buch verweisen, das einen sehr guten Einblick in die Zusammenhänge liefert – Jared Diamonds “Arm und Reich”. Das Schöne an diesem Buch ist, dass es geologische, biologische und ökonomische Faktoren zusammenführt.) Was kam zuerst, Ackerbau oder Kalender? Religion oder Staat? Eindeutig ist jedenfalls, dass alles, was wir als Kultur kennen, angefangen bei Speisevorlieben über Schrift oder Architektur, und jede Form von Überlieferung eine simple Grundlage hat: Sie entstehen, wenn die Nahrungsgrundlage gesichert ist und Überschüsse erzeugt werden. Erst wenn Überschüsse vorhanden sind, finden komplexere Vermittlungsvorgänge wie schriftliche Überlieferungen oder spezialisiertere Fähigkeiten überhaupt statt.
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Dabei liegen die Anfänge womöglich früher, als man lange dachte. Inzwischen ist klar, dass die Steinwerkzeuge der späteren Steinzeit bereits das Ergebnis spezialisierter Werkstätten waren, bei denen sich ungeheure Mengen an Feuersteinsplittern fanden, also auch bereits über große Entfernungen gehandelt worden sein muss. Auch über die Kulturen der Bronzezeit weiß man inzwischen anhand von Untersuchungen von Metallisotopen, wie weit einzelne Gegenstände oder Rohstoffe transportiert wurden. Und genetische Untersuchungen haben weitgehend geklärt, welche Tierart wo und wann domestiziert wurde.
Viele entscheidende Erfindungen, die für uns heute Kultur definieren, fanden mehrmals an unterschiedlichen Orten statt, die keinen Kontakt miteinander hatten. Die sumerische, die ägyptische, die chinesische Schrift und die der Maya sind völlig eigenständige Entwicklungen; aber klar ist, dass menschliche Kulturen eine Tendenz zur Schrift haben. Nachdem viele dieser Schriften mühsam zu erlernen sind, setzt die Nutzung der Schrift voraus, dass darauf spezialisierte Personen aus dem allgemein erwirtschafteten Überschuss ernährt werden können. Gleiches gilt für komplexere Formen von Religion sowie für die Entstehung erster Formen von Staat.
Wie abhängig diese Dinge von der materiellen Grundlage sind, zeigte sich beispielsweise nach dem Ende des Weströmischen Reiches, das erst ökonomisch zusammenbrach, aber binnen relativ kurzer Zeit (wobei das zur Staatsreligion erklärte Christentum mithalf) nur noch eine Bevölkerung von Analphabeten besaß. Die beispielsweise in Pompeji erhaltenen Grafitti sind ein Beleg dafür, dass in der römischen Antike große Teile der Bevölkerung lesen und schreiben konnten. Im Frühmittelalter war nur noch eine sehr kleine Schicht schriftkundig; selbst im Hochmittelalter konnten nur Mönche und Frauen des Hochadels lesen. Erst im Zuge der Reformation, also in der frühen Neuzeit, wurde wieder ein Niveau an Schriftbildung erreicht, das dem der Antike nahe kam.
BASF, Erdgas und Bananen
Sosehr eine Entstehung von Zivilisation an einem einzelnen Punkt möglich ist, sosehr ist sie für ihre Entwicklung auf Austausch angewiesen. Dabei geht es nicht nur um den Austausch von Gütern – Salz beispielsweise wurde schon früh über Hunderte Kilometer transportiert, davon zeugen die alten Salzstraßen. Es geht, langfristig gesehen, mehr noch um den Austausch von Erkenntnissen. Die Geschichte der Mathematik liefert ein faszinierendes Beispiel dafür, wie einzelne Einsichten wandern und die Beiträge völlig unterschiedlicher Kulturen wie der indischen, der griechischen und der arabischen zu einer Einheit verschmolzen, ohne die moderne Technik nicht möglich wäre. Nur durch dieses Zusammenwirken entsteht Wissenschaft; daher ist sie, ähnlich wie auch Literatur und Musik, letztlich eine gemeinsame Schöpfung der Menschheit, auch wenn einzelne Teile davon den Anschein erwecken, das Produkt einer einzelnen Person zu sein.
Wissenschaftliches Denken ist etwas, das sich auf der Grundlage von Schrift entwickelt, denn eine orale Weitergabe ist dafür bereits zu ungenau. Das bedeutet gleichzeitig, dass die vorhandene Menge an Überschüssen höher sein muss als jene zur Entwicklung einer Schriftkultur. Und es bedeutet, dass die Wissenschaft vor der Schrift verschwindet, wenn die Überschüsse ausbleiben.
Der Grund dafür sind unter anderem die langen Ausbildungszeiträume. Man hat sich heute daran gewöhnt, dass für eine moderne Gesellschaft zehn Jahre Schulbildung im Grunde das Minimum darstellen, das nötig ist, um überhaupt in ihr bestehen zu können. Die Eskapaden der deutschen Bürokratie wären anders gar nicht möglich. Erst nach diesen mindestens zehn, oft zwölf oder mehr Jahren Schulbildung beginnt überhaupt eine berufliche Ausbildung. Das bedeutet natürlich gleichzeitig, dass zum einen eine Arbeitskraft ausfällt, und zum anderen die Ernährung aus dem insgesamt erzeugten Überschuss sichergestellt sein muss.
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Ich stelle diese Punkte so ausführlich dar, um ein Gefühl dafür zu erwecken, welche Konsequenzen es hat, wenn eine Gesellschaft von einem Stand höher Überschüsse auf einen Stand des Mangels stürzt, wie es in Europa in näherer Zukunft geschehen kann. Der Zeitraum, über den sich ein kulturelles Niveau unter solchen Bedingungen erhalten lässt, ist begrenzt. Während augenblicklich die Vertrautheit mit der Schriftkultur unter den leicht verfügbaren elektronischen Medien leidet und viele jüngere Leute lieber Lernvideos sehen als Bücher lesen, stellt sich die Situation völlig anders dar, wenn auf einmal weder diese noch die traditionellen Druckerzeugnisse zur Verfügung stehen. Lesefähigkeit selbst auf einfachem Niveau geht nämlich ohne Praxis auch wieder verloren; das ist ein Problem, das in vielen Ländern des Südens zu sehen ist, in denen zwar eine grundlegende Schulbildung alphabetisiert, aber dann im Alltag kein bezahlbares Material zur Verfügung steht, um in Übung zu bleiben.
Vom augenblicklichen Bildungsstand bis zu verbreitetem Analphabetismus braucht es weniger als eine Generation, sobald die wirtschaftliche Grundlage verloren ist. Der Zeitraum, für den nach einem wirklichen Zusammenbruch eine Wiederherstellung möglich ist, ist begrenzt. Wird er überschritten, dauert der erforderliche Prozess Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte.
Der Dreh- und Angelpunkt hierbei sind die verfügbaren Nahrungsüberschüsse. Und die dürften, wenn man eine Fortsetzung der gegenwärtigen Politik und Machtstrukturen annimmt, gewaltig einbrechen.
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Die Proteste der Bauern in den Niederlanden hätten hierzulande weit mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt; schließlich stammen große Teile der Gemüseversorgung von dort. Deutschland ist bei pflanzlichen Nahrungsmitteln, vom Getreide abgesehen, schon lange kein Selbstversorger mehr, sondern importiert bis zu 80 Prozent. Wenn die Pläne der niederländischen Regierung zur Begrenzung des Einsatzes von Düngern greifen, geht die Produktion in den Niederlanden um mindestens ein Drittel zurück. Die Energiepreise dürften dafür sorgen, dass Produktion in Treibhäusern ebenfalls entweder massiv zurückgeht oder die Erzeugnisse für die meisten nicht mehr bezahlbar sind.
Milchprodukte dürften nicht nur deutlich teurer werden, weil auch die Verarbeitungsprozesse in Molkereien viel Energie brauchen; die Menge dürfte ebenfalls zurückgehen, weil das Kraftfutter nicht mehr zur Verfügung steht. Getreide wird für den menschlichen Konsum benötigt, auch die Anbauflächen für Grünfutter werden aus demselben Grund zurückgehen, und im Ergebnis werden die hochgezüchteten Hochleistungskühe weniger Milch liefern – falls sich die Milchproduktion für die Erzeuger überhaupt noch rechnet. Falls nicht, dürfte auch der Bestand zurückgehen.
Falls Transportketten zusammenbrechen, was sowohl wegen eines Ausfalls der Stromversorgung (Kühlung, Melkmaschinen!) als auch wegen eines Ausfalls der Logistik (Diesel und Ad Blue) denkbar ist, könnte der ganze Sektor auf den Stand des 19. Jahrhunderts zurückstürzen, allerdings ohne die dann erforderlichen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Und, nur zur Erinnerung: Kühe, die nicht gemolken werden, verenden nach einigen Tagen.
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Inzwischen ist ganz offiziell von Blackouts die Rede, und es wird so getan, als sei das eine beherrschbare Methode. Aber es ist eher eine tollkühne Wette darauf, dass schon nichts schiefgehen wird. Ein unkontrollierter Blackout, der zu Zerstörungen in größeren Umspannwerken führen kann, hätte Folgen über Monate. In Texas, das auf ähnlich unzuverlässige Energiequellen gesetzt hat wie die Bundesrepublik, konnte man im vergangenen Winter erleben, dass selbst eine noch kontrollierte Notabschaltung größerer Teile des Stromnetzes zu wochenlangen Ausfällen führte. Wenn man betrachtet, mit welchem Geschick andere logistische Probleme zurzeit bewältigt werden, muss man schon sehr viel Gottvertrauen besitzen, um bei der Ankündigung kontrollierter Abschaltungen keine Angst zu verspüren.
Aber bleiben wir vorerst bei der Nahrungsversorgung. Sie ist an mehreren Punkten bedroht. Die Frage von Produktion und Transport haben wir bereits angesprochen. Das nächste Problem ist die Lagerhaltung. Auch hier wird, im Falle des Getreides, Strom benötigt, weil Getreide, das in Silos gelagert wird, nicht nur herumliegt, sondern bewegt und belüftet werden muss, damit es nicht verdirbt. Gemüse und Obst werden in Lagerhallen aufbewahrt, die nicht nur gekühlt sind, sondern zusätzlich eine Spezialatmosphäre aufweisen, die durch geringeren Sauerstoffgehalt eine längere Aufbewahrung ermöglicht. Dafür braucht es reines CO₂, das aber ein Nebenprodukt der Ammoniakproduktion ist, die entweder heruntergefahren ist oder stillsteht.
Wenn man betrachtet, an wie vielen Punkten die einfache, grundlegende Nahrungsversorgung bedroht ist, darf man nicht vergessen, dass eine Aneinanderreihung von mehreren Risiken das Gesamtrisiko nicht durch Addition, sondern durch Multiplikation erhöht. Tatsächlich muss von mehreren möglichen nur eines eintreten, um wirklich massive Probleme auszulösen. Und was die Beherrschbarkeit betrifft – der hessische Innenminister hat zwar gemerkt, dass die Mobiltelefone der Polizei auch am Stromnetz hängen, hat aber zu einer Hightech- statt zu einer Lowtech-Lösung gegriffen und hundert Satellitentelefone bestellt … statt auf einfache Funktechnik zurückzugreifen. Will sich irgendjemand ausmalen, wie eine Verwaltung mit Lebensmittelkarten zu Rande kommen soll, die schon die vergleichsweise simple Versorgung der Bürger mit Masken völlig verkackt hat?
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Dafür gäbe es zwei Möglichkeiten. Die eine, altertümliche, mit Pappkärtchen zum Abschnippeln, scheitert an der Personalbesetzung moderner Supermärkte. Die andere, moderne, mit Chipkarte, scheitert daran, dass sie nur mit Strom funktioniert. Und die Fähigkeiten des deutschen Apparats sorgen dafür, dass beides nichts wird.
Wie gesagt, das alles sind keine banalen Ereignisse. Selbst als vorübergehende Phase traumatisieren sie und führen zu einem Zusammenbrechen gesellschaftlicher Regeln in ungeheurem Ausmaß. Wenn man ein Beispiel dafür braucht, kann man sich Russland in den 1990ern ansehen – ein Sinken der Lebenserwartung um zehn Jahre, massive Probleme mit Alkoholismus (was man den Menschen in einer solchen Situation nicht einmal verdenken kann), eine Explosion der Kriminalität. Das ist das Minimum, was bei einer Fortsetzung der jetzigen Entwicklungslinie zu erwarten ist. Allerdings gekoppelt mit einer politischen Klasse, die auf maximale Unterdrückung setzt und sich dabei sogar auf einen Teil der Bevölkerung stützen kann, der in den letzten zwei Jahren scharfgemacht wurde. Das wiederum verhindert die Formation von Kräften, die eine Erneuerung tragen könnten.
Was übrigens noch nicht so wirklich wahrgenommen wurde, ist, wie viele der heute gebräuchlichen Verhaltensweisen durch fehlenden Strom nicht mehr möglich sind. Der erste Punkt ist, dass, als Folge von Voice over IP, selbst gewöhnliche Telefonate nicht mehr möglich sind, wenn der Strom ausfällt. Während das alte Telefonnetz auf Schwachstrombasis weiter funktionierte, selbst wenn das Stromnetz ausfiel, gäbe es jetzt, ob durch einen echten oder einen geplanten Blackout, nicht nur kein Mobiltelefon, sondern auch kein Festnetz mehr. Ganz zu schweigen von Tinder und ähnlichen Erfindungen, über die die Jugend ihr Sozialleben organisiert.
Das gesamte auf Tausenden von Servern gespeicherte Datenvolumen ist ohne Strom schlicht nicht mehr erreichbar; was bedeutet, jede Verwaltung, die ihre Aktenführung digitalisiert hat, ist dann zumindest vorübergehend außer Funktion. Auch hier wäre der Absturz deutlich tiefer, als man auf den ersten Blick annehmen würde. Da Schreibmaschinen nur noch begrenzt vorhanden sind, müsste die handgeschriebene Kladde an die Stelle der computergeführten Datei treten. Das ist das 19. Jahrhundert, nicht das 20.
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