Wir leben eigentlich im 21. Jahrhundert. Warum eigentlich? Weil offensichtlich nicht alle Staaten in ihm angekommen sind. Einige leben ungefähr im 16. Jahrhundert, mit seinen Religionskriegen, der Verfolgung von “Ketzern”, der Inquisition und anderen Reizen einer scheinbar längst vergangenen Zeit. Und nein, ich spreche nicht von den Ländern, die im “aufgeklärten Europa” gewöhnlich als “rückständig” bezeichnet werden. Ich spreche von genau diesem “aufgeklärten” Europa – einem Land namens Estland.
Der estnische Rundfunk ERR berichtete neulich über die jüngsten Initiativen des Innenministers der Republik Lauri Läänemets, eines Sozialdemokraten:
“Läänemets erwartet von den Vertretern der estnisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats in Estland, dass sie die Aktivitäten des Patriarchen Kirill als Häresie anerkennen und ihre Beziehungen zu Moskau abbrechen.”
Sie sagen, das könne gar nicht sein, der Ausspruch müsse erfunden oder entstellt sein? Nichts dergleichen. Es erzählt der Chef des estnischen Innenministeriums selbst stolz, wie er die Vertreter der estnisch-orthodoxen Kirche unter Druck gesetzt hat:
“Wir haben noch einmal die Sicherheitsprobleme erklärt, die Estland nicht passen. Wir haben erklärt, welches Ergebnis Estland erwartet. Wir haben auch den Vertretern der Moskauer Kirche zugehört. (…) Wir haben auch über die verschiedenen Entscheidungen der orthodoxen Kirche auf der Welt und die in der Kirche geltenden Regeln gesprochen. Es gibt einen Kanon, der besagt, dass die Gemeinden im Falle von Häresie oder Irrlehre (der Kirchenoberen – d. Red.) eigenständige Schritte unternehmen können und ihre früheren Gelübde nicht einhalten müssen.”
Nachdem ich diese erstaunlichen Aussagen gelesen hatte, beschloss ich, vor dem Schlafengehen die estnische Verfassung zu lesen. Und wissen Sie, es gibt viele interessante Dinge in diesem Dokument. Nehmen Sie zum Beispiel Artikel 40:
“Jeder hat Gewissens-, Religions- und Gedankenfreiheit. Die Zugehörigkeit zu Kirchen und Religionsgemeinschaften ist frei. Es darf keine Staatskirche geben.”
Und hier ist Artikel 41:
“Jeder hat das Recht, seiner Meinung und Überzeugung treu zu bleiben. Niemand darf gezwungen werden, sie zu ändern. (…) Niemand darf wegen seiner Überzeugungen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden.”