Am Freitag legte die Expertenkommission der Bundesregierung ihren Evaluierungsbericht zu den bisherigen staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie vor. Zuvor hatte die Ampel-Koalition vereinbart, die wissenschaftliche Beurteilung abzuwarten, bevor über mögliche weitere Maßnahmen im kommenden Herbst und Winter entschieden wird.
Nach Einschätzung der Welt, die den Bericht bereits einsehen konnte, ist das Fazit der Evaluierung eine “Generalabrechnung mit der Politik und dem RKI”: Die Datenlage sei unzureichend und die politischen Schlüsse seien intransparent. Für die Wirksamkeit der Maßnahmen habe der Sachverständigenrat hingegen kaum Evidenz gefunden. Im Bericht heißt es demnach:
“Während in anderen Ländern Möglichkeiten zur Einschätzung der Wirkung von nicht-pharmazeutischen Maßnahmen genutzt wurden, ist eine koordinierte Begleitforschung während der Corona-Pandemie in Deutschland weitgehend unterblieben.”
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Es gebe keinerlei Forschungskonzept, um “auf Grundlage besserer Daten und darauf aufbauender Analysen die anstehenden Entscheidungen in der Pandemie zu fällen”. Auch gebe es keine gemeinsam koordinierten Forschungsinitiativen. Angebote der Gesetzlichen Krankenkassen, deren “enorme Datenbestände” zu nutzen, habe niemand angenommen. Zudem habe die Politik keine der geplanten oder laufenden Studien “zur Lösung der brennendsten Bekämpfungsfragen auf nationaler Ebene angestrengt”.
Kritisiert wurde im Evaluierungsbericht auch der Umgang mit kritischen Stimmen in Bezug auf die Corona-Maßnahmen. So heißt es im Bericht:
“Wer alternative … Denkansätze vorschlug, wurde nicht selten ohne ausreichenden Diskurs ins Abseits gestellt. Dabei ist eine erfolgreiche Pandemiebewältigung ohne den offenen Umgang mit Meinungsverschiedenheiten … nur schwer denkbar.”
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Ein weiterer Punkt war die Wirksamkeit von Lockdowns. Diese hätten zwar am Anfang einen “kurzfristigen positiven Effekt”, würden aber “auf Dauer von der Bevölkerung weniger akzeptiert werden und ihre Wirkung verlieren”. Umso stärker überwiegen stattdessen die “nicht-intendierten Folgen”, also die Kollateralschäden. Dazu zählen laut den Experten die “Steigerung der häuslichen Gewalt gegenüber Frauen und Kindern”, eine “Zunahme von psychischen Erkrankungen”, “existenzielle Nöte” und eine Verschlechterung der Grundgesundheit durch verschobene Behandlungen.
Insbesondere der Virologe Christian Drosten hat Schulschließungen immer wieder als wirksam dargestellt und verteidigt. Im heute veröffentlichten Papier wird dies allerdings wesentlich kritischer eingeordnet. So sei die “genaue Wirksamkeit von Schulschließungen auf die Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus” weiterhin offen. Die “deutlichen wissenschaftlichen Beobachtungen und Studien zu nicht-intendierten Wirkungen” seien dagegen “nicht von der Hand zu weisen”. Während nicht bekannt ist, ob Schulschließungen die Verbreitung des Coronavirus eindämmen konnten, hatten gerade diese zu massiven Kollateralschäden geführt. Laut Bericht waren die Folgen dieser Maßnahme auf das psychische Wohlbefinden der Schüler “immens”.
Zudem warnen die Experten davor, die Corona-Politik mit den vermeintlich hohen Inzidenzen zu begründen. Zahlreiche Maßnahmen-Befürworter argumentieren immer wieder mit angeblich hohen Zahlen. Doch das “anlasslose Testen an Schulen” führe dazu, dass ein “scheinbar höheres Infektionsgeschehen” dargestellt werde. Tatsächlich werden aber nur mehr Verdachtsfälle erfasst, die ohne Test nicht entdeckt würden. Würde man Erwachsene genauso oft testen wie Schüler, hätte man den gleichen Effekt.
Das Maskentragen in Innenräumen bewertet das Gremium grundsätzlich positiv. Im Bericht heißt es jedoch auch: “Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar.” Die Wirkung hänge außerdem auch davon ab, wie man die Maske trage: Eine schlecht sitzende oder nicht enganliegende Maske zeige einen verminderten bis keinen Schutzeffekt.
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Dem Sachverständigenausschuss, der je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag besetzt wurde, gehören Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen an, darunter Virologen, Juristen und Naturwissenschaftler. Die Evaluierung sollte vor allem die Maßnahmen im Rahmen der “epidemischen Lage von nationaler Tragweite” analysieren. Aus dem Expertenrat war zuvor bereits signalisiert worden, dass bis zum Ablauf der Frist Ende Juni keine “Vollevaluierung aller Maßnahmen” zu leisten sei. Zudem werde es keine konkreten Handlungsempfehlungen an die Politik geben.
In der Ampel-Koalition plädierte vor allem die FDP für eine Evaluation als Voraussetzung für die Entscheidung über weitere rechtliche Schritte. Da die zum Frühjahr zurückgefahrenen Corona-Bestimmungen im Infektionsschutzgesetz als bundesweite Rechtsgrundlage am 23. September auslaufen, benötigt die Regierung eine neue Regelung, falls weitere Maßnahmen getroffen werden sollen.
Für RKI-Chef Lothar Wieler hat der Bericht womöglich jetzt schon Konsequenzen. Unter anderem FDP-Vize Wolfgang Kubicki fordert seine Entlassung. Gegenüber der Welt am Sonntag erklärte er:
“Es ist unausweichlich, dass Minister Lauterbach den RKI-Präsidenten Lothar Wieler als Verantwortlichen dieser Misere entlässt.”
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt kritisierte die FDP wegen des Zeitplans und sagte gegenüber der FAZ:
“Auf ein Gutachten zu warten, damit man erst mal nichts tun muss, halte ich in der Bekämpfung einer Pandemie nicht für besonders verantwortlich.”
Auch die Union sorgt sich um den Zeitplan: Der Gesundheitsexperte der Union, Tino Sorge, bezeichnete es in der Augsburger Allgemeinen als sportlich, die neuen Regelungen für den Herbst erst nach der Sommerpause beschließen zu wollen. Er sprach sich jedoch gegen tiefgreifende Maßnahmen aus:
“Erneute Grundrechtseingriffe wie flächendeckende Lockdowns oder Schließungen von Schulen und Kitas müssen künftig vermieden werden.”