© Sean Gallup / Staff Bundestagsuntersuchungsausschuss zum Wirecard-Skandal: Fahndungsplakat des ehemaligen Wirecard-Geschäftsführers Jan Marsalek auf einer Mappe des Abgeordneten Fabio de Masi (Die Linke).
Der untergetauchte frühere Vorstand des inzwischen insolventen Finanzdienstleisters Wirecard, Jan Marsalek, gilt als Deutschlands meistgesuchter Manager mit krimineller Vergangenheit. Der Aufenthaltsort des seit 2020 mit internationalem Haftbefehl Gesuchten galt bis dato als unbekannt. Die BILD-Zeitung behauptet nun in einem Artikel, Moskau als Aufenthaltsort des Betrügers benennen zu können, wo er möglicherweise bis heute lebt.
Die Wirecard-Chefetage soll über Jahre Scheingeschäfte in Milliardenhöhe verbucht haben, um das damals im Dax gelistete Unternehmen über Wasser zu halten und Kredite zu erschwindeln. Es handelt sich um einen der größten Wirtschaftsskandale der deutschen Geschichte. Wirecard hinterließ zehntausende schwer geschädigte Kleinanleger.
Das Brisante an den Informationen ist, dass demnach der russische Inlandgeheimdienst FSB nach Bekanntwerden der Tatsache, dass sich Jan Marsalek in der russischen Hauptstadt aufhält, dem Deutschen Bundesnachrichtendienst (BND) ein Angebot offeriert hat, den Gesuchten vor Ort vernehmen zu können. Dazu heißt es im BILD-Artikel :
“Die BND-Zentrale in Berlin wurde eilig mit Berichtsschreiben über die Offerte informiert. Mit der Bitte um Weisung, ob ein Treffen mit Marsalek stattfinden soll – und wie der Milliardenbetrüger dann vernommen werden solle. Nun kannte man auch den Ort des Verstecks!
Nach BILD-Informationen ließ der BND die Frage seiner Moskauer Beamten aber ins Leere laufen – keine Antwort! Merkels Kanzleramt (Abteilung 7: Koordinierung der Nachrichtendienste), wurde jedoch über das brisante Gesprächsangebot informiert.”
Über 500 Treffen in vier Jahren: Ex-Politiker als Türöffner für Konzerne und Verbände
Brisant ist dahingehend freundlich formuliert, da zu dem Zeitpunkt der Anfrage des FSB an den BND, die ehemalige Kanzlerin Angela Merkel sich vorbereitete, um im sogenannten Wirecard-Untersuchungsausschuss ihre Aussagen zu tätigen. Seit dem Jahr 2020 versuchen Polizei und die zuständige Staatsanwaltschaft München den Ort des Abtauchens von Marsalek herauszubekommen. Laut dem BILD-Artikel wurde jedoch die bayerische Justiz vom BND über die brisante Anfrage im Jahre 2021 schlicht nicht informiert. Ein Fahndungserfolg untersagt. Ein Regierungssprecher teilte auf BILD-Anfrage zu Gründen der Nichtaktivität aktuell mit:
“Die Bundesregierung nimmt zu Angelegenheiten, die etwaige nachrichtendienstliche Erkenntnisse oder Tätigkeiten der Nachrichtendienste betreffen, grundsätzlich nicht öffentlich Stellung.”
Der Gesuchte startete nachweislich seine Flucht im Juli 2020 in Wien, um mit der letzten bekannten Information nach Weißrussland zu fliegen. Die Chronologie der Ereignisse jener Zeit:
28. April 2020 – KPMG (int. globales Netzwerk unabhängiger Unternehmen in den Bereichen Wirtschaftsprüfung), meldet nach monatelanger Sonderprüfung zu den Geschäftsjahren 2016 bis 2018, dass wesentliche Unterlagen fehlten.
5. Juni 2020 – Nach einer Anzeige der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen Marktmanipulation gegen den Wircecard-Vorstand und durchsucht die Konzernzentrale.
19. Juni 2020 – Wirecard gibt zu, dass Vermögenswerte von mehr als 1,9 Milliarden Euro vermutlich nicht existieren. Der Vorstandsvorsitzende von Wirecard, Markus Braun tritt zurück.
25. Juni 2020 – Der Dax-Konzern Wirecard stellt Insolvenzantrag.
22. Juli 2020 – Braun wird verhaftet. Finanzvorstand Jan Marsalek setzt sich nach Minsk ab.
Seit dem galt es als unbekannt, wo er sich aufhält. Der Linken-Politiker De Masi, einer der ehemals aktivsten Bundestags-Abgeordneten in der Causa Wirecard, twitterte zu den jüngsten Dynamiken:
“Diese Milliardenlüge, diese Illusionsfabrik Wirecard!” – Untersuchungsausschuss stellt Bericht vor
Neun Monate hinweg bis Ende Juni 2021 recherchierten Abgeordnete der Grünen, FDP und Linken zu dem Skandal Wirecard, um am Ende einen ausführlichen Bericht abliefern zu können. Das Handelsblatt konnte im Juni 2021 die Dimensionen genau benennen: “Mehr als 100 Zeugen wurden vernommen. Der digitale Aktenbestand umfasst 1,14 Terabyte, allein das Bundesfinanzministerium lieferte den Aufklärern 1436 Aktenordner.” Neben Alt-Kanzlerin Merkel, stand vor allem der heutige Bundeskanzler Scholz im Fokus der Ermittlungen. Dazu heißt es im August 2021 bei BR24 :
“2.000 Seiten dick, voll mit Vorwürfen gegen Behörden und vor allem Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Scholz: der Abschlussbericht des Wirecard-Untersuchungsausschusses. De Masi teilt mit Florian Toncar von der FDP die feste Überzeugung, dass die Rolle der deutschen Behörden und die Verantwortung der Bundesregierung im Wirecard-Skandal in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss beleuchtet werden musste.”
Der FDP-Abgeordnete Toncar kommentierte im Jahr 2021:
“Das war kein Skandal, der im Verborgenen, in dunklen Höhlen unter der Erde abgelaufen ist, sondern leider ein Skandal, der bis in die Chefetage des Bundesfinanzministeriums gegangen ist, wo die Bundeskanzlerin sich für das Unternehmen eingesetzt hat.”
Zu den Umständen der Beschuldigungen und Vorwürfe gegen den ehemaligen Finanzminister in der Regierung Merkel, dem heutigen Bundeskanzler Olaf Scholz, titelte das Handelsblatt im Juni 2021: “Multiples Versagen” – aber besonders Olaf Scholz steht in der Causa Wirecard noch einmal im Feuer”. Der Tagesspiegel kommentierte zu der Aussage von Olaf Scholz im April 2021:
“Olaf Scholz vor dem Wirecard-Ausschuss. Sein Name ist Hase, er weiß von nichts. Finanzminister Scholz liefert im Wirecard-Untersuchungsausschuss ein Beispiel dafür, wie Politiker ihr Tun vernebeln können – weil man sie lässt.”
Zu der Aussage von Merkel vor dem Untersuchungsausschuss hieß es im April 2021 beim Handelsblatt :
“Merkel im Wirecard-Ausschuss: “Ich bin mir dankbar, dass ich wach war”. Der Auftritt der Bundeskanzlerin im Untersuchungsausschuss brachte kaum neue Erkenntnisse.”
Kein Verdacht gegen Mitarbeiter? Razzia im Scholz-Ministerium erschüttert Wahlkampf
Nun könnte sich eine Situation dynamisieren, sollten die BILD -Gerüchte sich als Tatsache herausstellen, dass zumindest zum Abschlusstermin der Wirecard-Untersuchungen im Juni 2021, der BND wie auch das Kanzleramt gemeinsam über mehr Wissen zu einem möglichen Aufenthaltsort von Marsalek verfügten, als die Mitglieder des parlamentarischen Untersuchungsausschuss und die ermittelnden bayerischen Untersuchungsbehörden. Die jetzige Bundesregierung, aktuell geleitet von einem wesentlichen Akteur in den Ermittlungen im Wirecard-Skandal, sollte daher zeitnah darlegen, warum es die Vorgängerregierung im Frühjahr des Jahres 2021 unterlassen hat, die Festnahme eines Milliardenbetrügers, im Interesse der Deutschen Justiz und vor allem der Geschädigten, aktiv zu unterstützen. Der mittlerweile ehemalige Bundestags-Abgeordnete De Masi twitterte am 11. April:
“Die Bundesregierung muss jetzt umgehend erklären, warum der Bundestag belogen wurde und bisher kein offizielles Auslieferungsersuchen gestellt wurde (sofern die Hinweise zutreffen). Ob Frau Merkel, Herr Scholz oder der BND.”
Im Herbst 2022 steht die Hauptverhandlung gegen den früheren Wirecard-Vorstandsvorsitzende Markus Braun vor dem Landgericht München I an. Marsalek gilt weiterhin offiziell als “untergetaucht”.
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