Quelle: AFP © Ludovic Marin Französische Polizisten patrouillieren am 1. Juli 2023 auf den Champs Elysees in Paris, fünf Tage nachdem ein 17-Jähriger in Nanterre, einem westlichen Vorort von Paris, von der Polizei getötet wurde.
Kommentar von Karin Kneissl
In seiner ersten Reaktion auf den Aufstand junger Migranten in Reaktion auf den Tod eines 17-jährigen Franko-Algeriers bei einer Polizeikontrolle machte Macron sofort die Ursache für die Plünderungen und Attacken gegen sämtliche Einrichtungen der Republik aus: es ist das Internet. Besonderer Dorn im Auge ist auch einem Macron TikTok, das die USA politisch gerne mit der chinesischen Gefahr verbinden.
Das Internet abschalten?
Indes hat aber auch Macron begriffen, dass seine ersten Ankündigungen, wie das Abschalten des Internets und insbesondere der sozialen Medien – möglicherweise auch nur in bestimmten Regionen wie den “Banlieues”, also den Vororten der Großstädte – nach hinten losgehen kann. Etwas vorsichtiger meinte er daher:
“Und wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, muss man sich vielleicht in die Lage versetzen, sie zu regulieren oder abzuschalten. Das sollte man auf keinen Fall im Eifer des Gefechts tun, und ich bin froh, dass wir das nicht tun mussten”, meinte der französische Präsident bei dem jüngsten Treffen mit 241 Bürgermeistern der von den Ausschreitungen besonders betroffenen Städte.
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Nun sagte also Macron, über den Umgang mit sozialen Medien müsse in Ruhe nachgedacht werden: “Denn wenn es zu einem Instrument für Versammlungen oder für den Versuch zu töten wird, ist es ein echtes Thema.” Macron, der zur jungen Generation von Politikern gehört, sollte es eigentlich besser wissen, dass eine Internetsperre eine Lawine lostreten kann. Und zwar völlig losgelöst von der Abstammung der vom Internet Ausgesperrten. Also ob es sich nun um Jugendliche aus Migrantenmilieu oder um Franzosen handelt, die seit Generationen in den Problemvierteln leben.
Im Prinzip will Macron am Abschalten des Internets festhalten, wenn auch mit einer zeitlichen Verschiebung. Einen Vorgeschmack auf diese Zensur erlebten manche Twitter-User bereits am Wochenende, als ihre Tweets zu den Krawallen in Frankreich nicht abrufbar waren, obwohl es sich hierbei keinesfalls um Aufrufe zu Gewalt handelte. Es gibt nur wenige Vorteile, im Libanon zu leben, aber einer – und meines Erachtens der Wesentliche – ist die Pressefreiheit. So kann man hier – anders als in der EU – alle Sender sehen und sämtliche Websites besuchen, auch Tweets abrufen, die über französische Telefonnummern schon zensiert sind.
Die ägyptische Warnung
Und in diesem arabischen Land kamen die Behörden nie, auch nicht während der schlimmsten Unruhen, wie zuletzt im Oktober 2019, auf die Idee, die Kommunikation zu beschränken. Damals verwehrten die Banken den Kunden Zugriff auf ihre Konten, insbesondere Konten mit US-Dollar, und tun dies weiterhin. Auslöser für die damalige “Thawra”, im Arabischen “Revolution”, die aber als Abfolge von Protesten rasch endete, war die Besteuerung von WhatsApp-Nachrichten.
Als der sogenannte “Arabische Frühling” im Februar 2011 von Tunesien ausgehend auf Ägypten, das bevölkerungsreichste arabische Land, überschwappte, schaltete die Regierung unter Präsident Hosni Mubarak das Internet ab. Dies sollte sich als fataler Fehler erweisen. Was zuvor eine Protestbewegung von Studenten war, die vielleicht auch in Teilen von diversen “Demokratie-Experten” westlicher Botschaften und Vereine mitfinanziert wurde, verlagerte sich binnen Kurzem auf die Straße.
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Wie schon bei den gescheiteren bürgerlichen Revolutionen des Jahres 1848 in weiten Teilen Europas, schlossen sich binnen kurzem Arbeiter und Bauern, die Heerscharen der Ärmsten der Armen, die Müllsucher von Kairo, den Sit-ins auf dem Tahrir-Platz im Zentrum der Hauptstadt an. Aus Protestaktionen via Bildschirm, Facebook-Eintragungen und Aufmärschen vor der American University of Cairo wurde eine Protestaktion, welche das ägyptische Establishment in seinen Grundfesten erschütterte.
Pikanterweise ließ die CIA den Rücktritt des Präsidenten verkünden, der dann im Gefängniskäfig saß, bis schließlich im Juni 2013 die Armee unter General Sisi die Muslimbrüder wieder aus der Regierung verjagte.
Für Macron ist es nicht das erste Mal in seiner Amtszeit, dass ihm die Gewalt der Straße entgegenschlägt. Waren es im Herbst 2018 die Gelbwesten, die in Reaktion auf eine Treibstoffsteuer bald eine lange Liste von Forderungen hatten, so reagierte die Regierung auch auf die Proteste gegen die Pensionsreformen nicht mit Gesprächen und Parlamentsdebatte, sondern handelte demokratiepolitisch bedenklich nur auf dem Verordnungswege.
Frankreich wieder im Ausnahmezustand?
In den letzten Jahren hat Paris immer öfter und immer länger den Ausnahmezustand verhängt, so etwa in Reaktion auf die wiederkehrende Gewalt in den Banlieues und auf Terroranschläge. Dieses Mal will man das augenscheinlich auf Regierungsebene vermeiden und hält vielleicht Internetsperren für das kleinere Übel.
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Sollte dieser Schritt erfolgen, könnte der Aufstand eine völlig neue Dimension erhalten. Auszuschließen ist gar nichts, zumal gerade dieser Regierung der Kompass für das politisch Zumutbare abhandengekommen ist. Macron hatte mit seinem ersten Wahlsieg vor sechs Jahren die etablierte Parteienlandschaft zerstört, es kamen die moralisch bewegten Anhänger seiner Bewegung ins Parlament, deren Mehrheit er aber seither verloren hat.
Macron hat mit seinen bisherigen Gesetzen fest verankerte Verwaltungsstrukturen in Frankreich ausgehebelt, das gilt für die Präfekten wie für Diplomaten. Die Präfekten sind als Vertreter des Innenministeriums die unmittelbaren staatlichen Repräsentanten an der Spitze der Departements. Die Schwächung all dieser Strukturen, die Zermürbung des Sicherheitsapparates und der Bevölkerung während der COVID-Lockdowns und vor allem der massive Verlust von Kaufkraft machen dem Staat und der Bevölkerung zu schaffen.
Ein neuerlicher Ausnahmezustand mit Ausgangssperren soll nun der Bevölkerung nicht zugemutet werden. Aber Internetblockaden doch? Sollte dieser Schritt erfolgen, kann das offizielle Paris sicher sein, dass es zu politischen Beben kommt. Ein Blick in die Herkunftsländer der Randalier, also die arabischen Staaten, sollte Warnung genug sein. Elon Musk, Chef von Twitter, absolvierte vor einigen Monaten einen Besuch bei Macron. Alles schien eitel Wonne zwischen den beiden Herren. Tweets zu löschen, die nur das zeigen, was tatsächlich stattfindet, kann nicht Gegenstand ihres Gespräches gewesen sein.
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