Wie entstand die pro-russische Stimmung der Ostdeutschen? Eine Spurensuche
Dieses war an einem kleinen See in der malerischen Kaschubei. Dort gab es eine Familienfeier mit einigen Leuten, die ich vorher nicht kannte. Einer von ihnen war ein junger Naturwissenschaftler, der von meiner Familie erfuhr, dass ich in Russland lebe. Aus Neugierde fragte er mich, wie es sich denn ausgerechnet jetzt in Russland leben lässt. Ich meinte, dass alles gut sei, wir uns würdevoll und dankbar über Wasser halten und es uns an nichts mangelt. Sofort begannen wir über Politik zu sprechen.
Er meinte, er sei in einer internationalen Community von Naturwissenschaftlern aktiv, kenne auch einige wertvolle, talentierte Kollegen aus Sankt Petersburg. Er war aber geschockt davon, wie seine wissenschaftlichen Mitstreiter seit Februar 2022 eine prorussische Position einnahmen. Gleichzeitig sei er vollkommen verblüfft gewesen von der “Gehirnwäsche”, die ihnen scheinbar so effektiv verabreicht wurde. Daraufhin habe ich ihm erklärt, dass diese Erklärungsweise für ein eigentlich sehr komplexes, geopolitisch-anthropologisches Problem in Osteuropa vielleicht zu einfach ist. Da bemerkte der Mann erstmals aber friedlich, dass ich eine andere Position vertrete als er. Meine Frage, wie sicher er sich ist, dass nicht auch “wir” (also die polnische Gesellschaft) auf ein bestimmtes Weltbild hin gehirngewaschen wurden, verblüffte ihn.
Wir hatten einen anderen Zuhörer, der sogar die von mir genannte Möglichkeit, dass uns andere Perspektiven fehlen – und wir uns zu sehr auf die Unfehlbarkeit der westlichen Auslegungsweise der Weltpolitik verlassen –, zuließ. Dieser flüchtige Moment von Einsicht, dieses fragile Eingeständnis von Ungewissheit, war mein einziger Lichtblick während der ganzen Reise. Als mein Onkel Paweł dazustieß, erstarb das Gespräch wieder.
Rückblick
Es gab für mich keine wirklichen Überraschungen auf dieser Durchreise, da ich den Diskurs und die Entwicklung Polens aus der Entfernung über viele Jahre hinweg immer aufmerksam beobachtet habe. Aber Vorort zu sein in einer Welt, die man guten Gewissens eine “alternative Realität” nennen kann, ist noch mal eine völlig neue Erfahrungsebene.
Gleichzeitig stimmen mich gewisse Dinge nachdenklich. Wie bereits mehrmals unterstrichen, bräuchte es Zeit, alternative Sichtweisen zu erklären. Aber es braucht auch den Willen des Gegenübers, andere Perspektiven kennenzulernen, und Neugier, um das Gesagte auf Herz und Nieren zu prüfen. An beidem mangelt es in der polnischen Republik derzeit. Es gibt Ausnahmen, aber der Durchschnittsbürger wird an ihnen vorbeigebabysitted. Die polnische Gesellschaft bleibt in weiten Teilen in einem einseitig gelenkten Kriegsrausch, der von der Warschauer Regierung mit wachsender Intensität befeuert wird. In dieser Welt wird von Russland das Bild einer unbeweglichen, bedrohlichen und autoritären Konstante im Osten gezeichnet. Die russischen Zaren, die Bolschewiki, Stalin und Putin werden zusammengeschweißt zu einer amorphen, unveränderlichen Kreatur. Russische und sowjetische Geschichte wird auf grob fahrlässigem Kindergarten-Niveau gehalten und erscheint durch die NATO-Linse verzerrt. Als gebürtiger Pole muss ich sagen: Das Wissen über die russische Geschichte ist extrem vereinfacht, infantil, ohne Gespür oder fehlt meist ganz.
Für die über Dekaden aufgebauten finanz- und gesellschaftspolitischen Probleme Brüssels und Washingtons sind die relevanten polnischen Eliten und ihre Akteure vollkommen blind und taub. Sie ahnen mit keiner Faser, dass der Ukrainekonflikt stellvertretend ist für einen weltweiten Um- und Zusammenbruch der bisher westlich dominierten Systeme und Institutionen. Kaum jemand bereitet sich dort darauf vor. Bei den Polen gelten der “ewige Russe” als Typus und “Anti-Amerikanismus” als Ideologie als die einzigen unmittelbaren Feinde, die jedwede Bekämpfung verdienen.
Meine Reise bestätigte mir noch einmal auf ganz persönlicher Ebene, dass wir heute in einer Ära leben, in der Kontexte, Kausalitäten und Hintergründe ausgeblendet werden, um die selbstverschuldete Konfrontation mit Russland in der Ukraine als Sieger zu erscheinen. Wie werden wir, die Polen, aber angesichts dessen auf eine mögliche Niederlage reagieren?
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