Feldmarschall Friedrich Paulus und deutsche Generäle bei ihrer “Evakuierung”
von Anton Gentzen
Die Neigung, Niederlagen in Siege umzudeuten und Katastrophen herunterzuspielen, hatte Kriegspropaganda schon immer gehabt. Es hatte doch im April 1945 tatsächlich Deutsche gegeben, die geglaubt hatten, der Führer habe die Rote Armee in eine Falle gelockt und werde bei Berlin eine Kriegswende herbeiführen. Am Ende hatte Adolf Hitler seine eigene Propaganda selbst geglaubt: “Wenck wird kommen!”
Doch was derzeit in ukrainischen, deutschen und amerikanischen Medien an Umdeutung tatsächlicher Ereignisse läuft, erreicht neue Höhen (oder eben Tiefen). Es lässt den braunen Meister der Propaganda Joseph Goebbels wie einen Schuljungen dastehen. “Warum nur, warum”, schreit es aus einem der Kochtöpfe in der Hölle heraus, “warum ist mir das damals nicht eingefallen?”
Helden kapitulieren nicht
In der Tat, die Kapitulation und Gefangennahme der 6. Armee bei Stalingrad als “Evakuierungsaktion” darzustellen, als Teil eines Plans, sie gegen sowjetische Kriegsgefangene (und Feldmarschall Friedrich Paulus gegen General Wlassow) einzutauschen, so weit hatte die Fantasie des deutschen Propagandaministers damals nicht gereicht.
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Die Schlacht von Stalingrad hatte von Ende August 1942 bis Februar 1943, mithin fünf Monate gedauert. Am Ende war die Lage der 6. Armee hoffnungslos gewesen, Befehlshaber Paulus war nur die Wahl zwischen der Kapitulation und der Verurteilung seiner Soldaten zum unabwendbaren Tod durch Erfrieren, Hunger und Krankheiten geblieben. Paulus kapitulierte, Hitler tobte, Goebbels ordnete Trauer an.
Die Schlacht um Mariupol dauert nun etwa zweieinhalb Monate, der vom Asow-Regiment und den Resten anderer ukrainischer Verbände kontrollierte Bereich beschränkt sich seit gut einem Monat auf ein gigantisches sowjetisches Stahlwerk, das seinerzeit bewusst als atomsichere Festung angelegt worden war. Nur der letztere Umstand zieht den Untergang der ukrainischen Garnison noch in die Länge: Die Lage ist für die Verteidiger aussichtslos, die Möglichkeit der militärischen Entkesselung wurde selbst von Verantwortlichen in Kiew in Abrede gestellt, Kraft zum Ausbruch haben die Eingeschlossenen auch längst nicht mehr.
Nachdem auch das weltweite Drücken auf die Tränendrüsen nichts half und selbst der Papst und Recep Tayyip Erdoğan nichts auszurichten vermochten, stehen die Asow-Mitglieder vor derselben Wahl wie die 6. Armee in Stalingrad: zu kapitulieren oder elend an Krankheiten, Hunger und den russischen Artilleriebeschüssen einzugehen.
Eine Kapitulation würde indes am sorgsam aufgebauten arischen Heldenmythos rund um die “standhaften Kämpfer” kratzen, die nur die Wahl zwischen einem triumphalen Sieg und einem heroischen Einzug in Walhalla akzeptieren. Nach Walhalla wollen die Asow-Kämpfer gar nicht, was an ihren täglichen weinerlichen Videobotschaften unschwer zu erkennen ist.
Mariupol: Asow-Regiment deutet Bereitschaft an, sich zu ergeben, um “Leben zu bewahren”
Zudem gefährdet eine Niederlage in Mariupol nichts anderes als die durch den Krieg vorübergehend gefestigte Macht Wladimir Selenskijs: Schon jetzt ist er es, in dem das nationalistische und rechtsradikale Spektrum der ukrainischen Gesellschaft (das zwar eine Minderheit ist, den öffentlichen Diskurs aber seit dem Sieg des Maidan im Februar 2014 dominiert und der Politik unverrückbare Leitplanken setzt) den Schuldigen an der Niederlage von Mariupol ausmachte, gar den bewussten Verräter, der die Verteidigung schlecht vorbereitet und die Verteidiger bewusst im Stich gelassen hatte.
Kein Wunder also, dass die PR-Stäbe des ukrainischen Präsidialbüros (PR ist die politisch korrekte Bezeichnung für Propaganda der eigenen Seite) seit Tagen und Wochen Krisensitzungen abhalten, die sich nur um ein Thema drehen: Wie den Ukrainern die unvermeidbare Kapitulation der Verteidiger von Asowstal verkaufen?
Die Idee, die in diesen Sitzungen wohl bei viel Kaffee und Alkohol geboren wurde, ist auf perfide Art genial: Man stelle die Kapitulation nicht als Kapitulation, sondern als gelungene Rettung der heldenhaften Verteidiger dar. Der Begriff “Evakuierung” war geboren. Sollten Fragen auftauchen, warum die “Evakuierung” die “Evakuierten” in Internierungslager und bewachte Spitäler tief im Hinterland des Feindes führte, stelle man dies als Teil eines Deals mit niemand anderem als dem russischen Präsidenten dar: Er wird “unsere Jungs” heilen und versorgen. und nach einiger Zeit werden sie gegen russische Kriegsgefangene ausgetauscht, die sich in den Händen der Ukraine befinden. Ein Hinterzimmerdeal.
Es muss also nicht wundern, dass die gleichgeschalteten ukrainischen Medien die Ereignisse in Mariupol so darstellen. Doch warum machen deutsche, europäische, US-Medien bei diesem Framing mit?
Da titelt die Tagesschau , einst die Hauptnachrichtensendung des deutschen Fernsehens, doch tatsächlich: “Mehr als 260 Soldaten aus Stahlwerk evakuiert”.
Screenshot von tagesschau.de (Gefertigt am 17.05.22)
Evakuiert wohin? Evakuiert durch wen?
Erneut Medienberichte über Folter und Tötung russischer Kriegsgefangener
Man muss schon zwischen den Zeilen lesen, um als Zuschauer, der sich nur aus dem deutschen öffentlichen Fernsehen informiert (es soll ja diese Spezies tatsächlich noch geben), der Wahrheit näher zu kommen. Im Text der Nachricht liest derjenige, der sich nicht allein auf die Überschriften beschränkt (auch diese seltene Spezies soll es Gerüchten zufolge noch geben): “Viele der Soldaten sollen in einem Gefangenenaustausch zurückkehren.”
Aha, wird sich der Aufgewecktere unter den ARD -Zuschauern denken, also kommen alle erst mal irgendwohin, von wo viele – nicht alle – zurückkehren werden. Und das auch noch “in einem Gefangenenaustausch”. Werden in einem Gefangenenaustausch tatsächlich Evakuierte gegen Evakuierte ausgetauscht? Oder Evakuierte gegen Gefangene? Oder vielleicht doch Gefangene gegen Gefangene?
Doch nur derjenige, der über prüfungsfeste geografische Kenntnisse der Region verfügt, wird aus diesem Satz der Tagesschau -Reporter herleiten können, wer da die Verwundeten wohin evakuiert hat:
“Die Schwerverletzten seien in die Stadt Nowoasowsk transportiert worden. An der Evakuierung der weiteren Verteidiger des Stahlwerks Asowstal werde noch gearbeitet.”
Screenshot von deutschlandfunk.de am 17.05.22
Der Deutschlandfunk (DLF ), ein Produkt für den intellektuellen Hörer, erlaubt es sich, das Geheimnis um die geografische Lage der Stadt Nowoasowsk im Text seiner Meldung zu enthüllen:
“Laut russischem Verteidigungsministerium sollen die Kämpfer in die von Russland kontrollierte Stadt Nowoasowsk gebracht und dort medizinisch behandelt werden.”
Meinung
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Der Hörer des DLF ist gegenüber dem Zuschauer der Tagesschau nun in dem Vorteil, dass er weiß, dass Nowoasowsk “von Russland” (tatsächlich von der Volksrepublik Donezk, aber das wären Nuancen) kontrolliert wird. Nun ist der Hörer des DLF aber intellektuell und lässt sich nicht in die Irre führen: Was das russische Verteidigungsministerium verlautbaren lässt, wird ja wohl russische Propaganda sein. Ergo, schlussfolgert der intellektuelle Zuhörer überaus logisch: Die Ukraine evakuiert die Soldaten in eine ukrainisch kontrollierte Stadt, wohin denn sonst. Und da ist er dann stolz, der intellektuelle DLF -Hörer, nicht auf russische Propaganda hereingefallen zu sein.
Dies sind nur zwei Beispiele: Die Spalten und Titelseiten nahezu aller deutschen Medien sind heute voll von dem Framing, die Kapitulation als “Evakuierung” darzustellen. Als würde jemand das zentral dirigieren. Und natürlich geht es nicht nur um die deutschen Medien: Das Framing erfolgt im gesamten transatlantischen Westen.
So sieht es zum Beispiel im US-Nachrichtensender CNN aus:
“Die Ukraine beendet symbolische Verteidigung des ‘Asowstal’-Stahlwerkes. Der Kampf um den letzten ukrainischen Stützpunkt in Mariupol scheint sich dem Ende zuzuneigen, nachdem Hunderte von Soldaten über Nacht evakuiert wurden.”
Screenshot CNN-Internetseite am 17.05.22 18.48 Uhr
Und hier noch mehr Beispiele:
Und Gonzalo Lira kommentiert das gleichlautende Wording der New York Times :
“Sie wurden nicht ‘evakuiert’ – sie haben kapituliert. Die Schlacht im Stahlwerk ist nicht ‘vorbei’ – sie wurde verloren.”
Ein Rufer in der Wüste.
Wie man Niederlagen als Erfolg verkauft
Auch Goebbels hatte sich im Januar 1943, ähnlich Selenskijs PR-Stäben, in langen schlaflosen Nächten damit herumgequält, wie seine Propagandamaschine nach all den siegesgewissen Durchhalteparolen den Deutschen die “plötzliche” Nachricht von der Niederlage übermitteln soll. In seinem Tagebucheintrag vom 21. Januar 1943 hatte er gar mit Hitler gehadert:
“Wir müssen uns nun allmählich mit dem Gedanken vertraut machen, das deutsche Volk über die Situation in Stalingrad zu unterrichten. Das hätte eigentlich schon längst geschehen können. Aber bisher war der Führer immer noch dagegen. Schließlich und endlich aber können wir die Dinge nicht so weit treiben lassen, dass wir dem deutschen Volke erst dann etwas sagen, wenn alles vorbei ist. Es wird also unvermeidlich sein, dass wir hier ein offenes Wort sprechen, und je eher, desto besser.”
Es dauerte noch neun Tage, bis Luftwaffenchef Hermann Goering – die Hiobsbotschaft sollte nicht der Führer überbringen – in einer im Rundfunk übertragenen Ansprache so klar sprach, dass nur ein völlig Verblendeter nicht begriff, was die Stunde geschlagen hatte:
“Was dort unsere Grenadiere, Pioniere, Artilleristen, Flakartilleristen und wer sonst in dieser Stadt ist, vom General bis zum letzten Mann, leisten, ist einmalig. Mit ungebrochenem Mut, und doch zum Teil ermattet und erschöpft, kämpfen sie gegen eine gewaltige Übermacht um jeden Block, um jeden Stein, um jedes Loch, um jeden Graben.”
Wer weiß, wie die Geschichte verlaufen wäre, wenn Hitler selbst zum Volk die Sätze von Selenskij gesprochen hätte:
“Wir hoffen, dass wir das Leben unserer Jungs retten können. Ich möchte unterstreichen: Die Ukraine braucht ihre ukrainischen Helden lebend. Entschuldigung, ich meine: Deutschland braucht seine deutschen … Das ist unser Prinzip.”
Goebbels’ Propagandamaschine hatte aus dem Untergang der 6. Armee einen Helden- und Opfermythos gestrickt. Auf die Idee, die Kapitulation von Stalingrad zu einem geheimen Plan des Führers oder einen Hinterzimmerdeal mit Josef Stalin umzudichten, waren die Lehrmeister der Propagandisten von heute indes nicht gekommen. Heute übertrafen die Schüler ihren Lehrer im Fach Zynismus um Längen.
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