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Grenzen von 1991 – ein sinnloser Fetisch

Grenzen von 1991 – ein sinnloser Fetisch

Quelle: Sputnik © Alexandr KondratjukSymbolbild

Von Igor Karaulow

Der Erfolg des aserbaidschanischen Blitzeinsatzes in Berg-Karabach hat das Problem der “Grenzen von 1991” in ein neues Licht gerückt. Ich bin mehrmals der Ansicht begegnet, dass Aserbaidschans Rückkehr an die Grenzen von 1991 uns ein Beispiel für die Regulierung aller anderen Konflikte im postsowjetischen Raum gebe und dass schließlich eine Rückkehr zu diesen Grenzen wie zu einem quasi natürlichen Zustand der Dinge überall stattfinden werde. Solche Überlegungen erscheinen mir nicht ganz korrekt.

Zunächst sollte man feststellen, dass in den Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan keine Rückkehr zu den Grenzen von 1991 – oder, einfacher gesprochen, zu den Grenzen der Sowjetperiode – stattgefunden hatte.

Erstens existierten neben der Enklave Karabach und der Exklave Nachitschewan formell eine weitere armenische Enklave in Aserbaidschan und drei aserbaidschanische Enklaven in Armenien. Ihre Wiederherstellung ist in absehbarer Zukunft kaum möglich.

Zweitens wurden die Grenzen des Autonomen Gebiets Berg-Karabach nicht wiederhergestellt. Doch wie kann man von der Wiederherstellung von bestimmten Grenzen sprechen und dabei andere ignorieren? Diese Grenzen stehen den Grenzen zwischen ehemaligen Sowjetrepubliken in nichts nach. Und wenn man schon die Lage in den vergangenen Zustand rückversetzt, so sollte man auch diese Einzelheiten berücksichtigen.

Überhaupt gibt es ein globales Missverständnis hinsichtlich des Status von sowjetischen administrativen Grenzen. Die Sowjetunion mit ihren Unionsrepubliken, autonomen Republiken, Gebieten und Kreisen hatte eine äußerst komplizierte territoriale Struktur. Kein anderer Staat der modernen Welt ist auf diese Weise aufgebaut, und in kleinere Staaten würde dies schlicht nicht hineinpassen. Stellen wir uns vor, dass es im mehrheitlich hinduistischen Indien eine muslimische Republik mit weitläufigen hinduistischen Gebieten gibt, der dazu auch noch eine Sikh-Autonomie angehört. Nein, würden die Inder sagen, wir haben es auch so schwer genug, und ihr schlagt uns vor, in einem Knobelspiel zu leben. Doch die UdSSR lebte genau so!

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Gewisse Ähnlichkeiten kann man finden, wenn man das Frankreich des 15. Jahrhunderts oder das Deutschland des 18. Jahrhunderts mit den jeweiligen territorialen Aufteilungen, Hierarchien und Gemengelagen betrachtet. Bei einer stark zentralisierten Staatsgewalt war die UdSSR formell wie eine Ansammlung von feudalen Gebietsherrschaften aufgebaut. Eine solche Struktur setzt voraus, dass keine Herrschaft absolut sein kann. Die einen Beziehungen wurden durch andere bedingt, die wiederum durch dritte bedingt wurden.

Beispielsweise existierte das Autonome Gebiet Berg-Karabach als Teil von Aserbaidschan in dieser Logik deshalb, weil in Baku und in anderen Städten der Republik viele Armenier lebten; weil es in Berg-Karabach selbst den vorwiegend aserbaidschanisch bevölkerten Kreis Schuscha gab; weil die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan durch armenisches Territorium vom Mutterland abgetrennt war; weil ein friedliches Zusammenleben all dieser Völker durch die zentrale Staatsgewalt gewährleistet wurde. Sobald diese komplizierte und fragile Struktur zusammenbrach, erhielten die bisherigen Grenzen für einige eine ganz andere Bedeutung, während sie für andere ihren Sinn gänzlich verloren.

Es sollte hinzugefügt werden, dass die ethnische Markierung von Territorien in der UdSSR gar nicht die Bedeutung hatte, die sie später erhielt. Sie war nicht dazu gedacht, dass Bürger der “Titularnationen” die der “nicht-titularen” unterdrückten und sie wie Sklaven oder unerwünschte Fremde betrachteten. Jeder Mensch konnte in ein anderes “nationales” Gebilde umziehen, ohne dabei zu einem Bürger zweiter Klasse zu werden, ohne mit besonderen Anforderungen konfrontiert zu werden und ohne irgendwelche zusätzlichen Verpflichtungen im Vergleich zu den Einheimischen zu erhalten.

Im Grunde war das “sowjetische Volk” eine nach modernen Begriffen bürgerliche Nation. Doch auch nachdem die Unionsrepubliken unabhängig wurden, wären sie in der Lage gewesen, das Modell der bürgerlichen Nation zu behalten, ohne zwischen “Titularnationen” und anderen zu unterscheiden. Russland tat dies. Daher wurde die Russische Föderation trotz aller ursprünglichen Probleme nicht zu einem Schauplatz ethnischer Konflikte, und die innerhalb ihres Gebiets gezogenen Grenzen behielten ihren ursprünglichen Sinn. Doch die Mehrheit der Republiken traf eine andere Wahl. Entweder erhielten sie ihre Unabhängigkeit in Form von Ethnokratien oder begannen, sich in Richtung von Ethnokratien zu entwickeln. Daher rühren die zwischenethnischen Konflikte im postsowjetischen Raum: Menschen, deren Vorfahren seit Jahrhunderten auf ihrem Land gelebt hatten, waren plötzlich Fremde, Minderheiten, die hier durch die Gnade der “Titularnation” leben. Letztere begann indessen, den Minderheiten ihre Sprache, ihre Gebräuche und ihre Version der Geschichte aufzuzwingen.

Dabei war die Einführung der “Grenzen von 1991” durch die Autorität des Völkerrechts und ihre mechanistische Gleichsetzung mit einfachen Staatsgrenzen nicht nur eine Vereinfachung, sondern auch eine große Ungerechtigkeit. Nach Recht und Billigkeit wäre es notwendig, die nationalen und territorialen Grenzen neu zu ziehen und herauszufinden, wer mit wem und zu welchen Bedingungen leben möchte. Doch wer würde sich damit unter den Bedingungen eines kompletten Zusammenbruchs befassen?

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Theoretisch könnten einige postsowjetische Konflikte auch heute noch friedlich und gleichzeitig auf Grundlage der Grenzen von 1991 gelöst werden. Nur ein Faktor verhindert dies, nämlich Nationalismus. Wenn es beispielsweise der moldawischen Gesellschaft gelänge, den Nationalismus in sich selbst zu überwinden, wäre ihre Integration mit Transnistrien möglich. Auch in Russland wäre kaum jemand dagegen. Schließlich schlug Russland der Ukraine gerade diese Variante acht Jahre lang, vom Sieg des Euromaidans bis zum Beginn der speziellen Militäroperation, vor: Ändert den Charakter eures Staats, verzichtet auf Nationalismus, und wir werden den Donbass davon überzeugen, mit euch in einem Land weiterzuleben. Die ukrainische Führung wollte es nicht, was zu Hunderttausenden Toten führte.

Vorwürfe an Russland, “die Grenzen von 1991” als Teil des Völkerrechts zu verletzen, sind Fehl am Platz. Der einzige Feind dieser Grenzen ist der Nationalismus. Ein Nationalismus, der auf historisches Erbe und humanistische Prinzipien verzichtet und nur die für ihn vorteilhaften Grenzen für sich beansprucht, ist schließlich absurd. Ein solcher Nationalismus sollte nicht durch das Völkerrecht geschützt werden und sich nur auf eigene Kräfte verlassen.

Gerade so sind die Ereignisse der vergangenen 35 Jahre zwischen Armenien und Aserbaidschan zu verstehen – nämlich als ein Triumph des Rechts des Stärkeren und nicht des Völkerrechts. Zunächst war die Stärke auf der Seite Armeniens, und unter die Kontrolle der armenischen Kräfte geriet ein Gebiet, das das ursprüngliche Territorium von Karabach um ein Vierfaches überstieg. Und das war ungerecht. Später wurde Aserbaidschan stärker. Im Jahr 2020 holte es sich große Teile des unkontrollierten Gebiets zurück und liquidierte es nun vollständig. Und auch das droht, gegenüber den dort lebenden Menschen ungerecht zu werden.

Es scheint, dass man heute vor allem über Gerechtigkeit sprechen sollte. Darüber, wie die Völker, deren Beziehungen durch Erfahrung der Feindschaft belastet sind, in der modernen Welt leben und durch gemeinsame Arbeit zu Wohlstand kommen könnten. Eine Absolutisierung der “Grenzen von 1991” ist diesem Zweck nicht immer dienlich.

Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen bei Wsgljad.

Igor Karaulow ist ein russischer Dichter und Publizist.

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