Die Atomaufsichtsbehörde der Vereinten Nationen ist besorgt, dass in der Ukraine spaltbares Material verloren gehen könnte, mit dem sich Nuklearwaffen herstellen ließen. Dieses Schreckensszenario raube den Experten den Schlaf, erklärte der Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), Rafael Grossi, am Mittwoch bei einer Podiumsdiskussion auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos.
Grossi schlug Alarm wegen des Kernkraftwerks Saporoschje im Süden des Landes. Dieses wurde im Februar von russischen Truppen eingenommen, wird aber durchgehend von ukrainischen Nuklearspezialisten betrieben. In der IAEO sei man besorgt über die Herausforderungen, denen die Behörde bei der Überwachung der größten zivilen Nuklearanlage Europas mit sechs Atomreaktoren aufgrund des anhaltenden Konflikts im Land gegenüberstehe, gab Rossi zu verstehen:
“Wir müssen dorthin, denn dort lagern über 30.000 Kilogramm Plutonium, 40.000 Kilogramm angereichertes Uran. Und wir sind diejenigen, die sicherzustellen verpflichtet sind, dass dieses Material dort verbleibt und nicht für andere Zwecke entfremdet wird – doch in dem Maße, in dem meine Inspektoren keinen Zugang zu dem Kraftwerk bekommen, wird dort möglicherweise ein Schlupfloch geschaffen.”
Die Situation sei “beispiellos” und “nicht hinnehmbar”. Die größte Sorge bereite der IAEO, dass, wenn die Inspektoren irgendwann in der Lage seien, eine Bestandsaufnahme der Lagereinrichtungen vorzunehmen,
“wir am Ende herausfinden, dass ein paar hundert Kilogramm atomwaffenfähiges Material verschwunden sind. Das ist es, was uns im Moment nachts nicht ruhig schlafen lässt”.
Als Reaktion auf die Medienberichterstattung über Grossis Äußerungen gab der ukrainische zivile Kernenergiebetreiber Energoatom in aller Eile eine Erklärung ab, dass der IAEO-Chef keine nicht deklarierten Bestände an waffenfähigem Material im Besitz Kiews genannt habe. Den Korrespondenten des Wall Street Journals, der die Nachricht als erster in Umlauf brachte, Laurence Norman, beschuldigte Energoatom einer falschen Berichterstattung zu diesem Thema. Welche Angaben jedoch falsch gewesen sein sollen, präzisierte der ukrainische staatliche Atomkonzern indes nicht. Der Journalist hatte getwittert, die von Grossi genannte Menge nuklearen Brennstoffs sei “auffällig”, und berichtet, dass die Agentur “sichergehen wollte, dass keine Bestände verschwunden sind”:
“Beeindruckende Zahlen von @rafaelmgrossi zu den Kernbrennstoffvorräten in Saporoschje in der Ukraine, zu denen die @iaeaorg, wie es heißt, den Zugang sucht. Grossi erklärte, die Anlage enthalte 30.000 Kilogramm Plutonium und 40.000 Kilogramm angereichertes Uran. Die Agentur will sichergehen, dass von den Beständen nichts verloren ging.”