Quelle: www.globallookpress.com © Marijan Murat / dpa Symbolfoto: Mitarbeiterin eines Altenheims betreut einen Bewohner. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der ausländischen Beschäftigten aus den Westbalkanstaaten in der Pflegebranche stetig gewachsen.
Besucht man heute Bosnien-Herzegowina und spricht mit den Menschen vor Ort, merkt man schnell, dass gefühlt jeder Zweite inzwischen einen Verwandten oder Freund hat, der derzeit entweder in Deutschland oder Österreich lebt und arbeitet. Zwar waren bereits vor Jahrzehnten viele aus der damaligen jugoslawischen Teilrepublik als Gastarbeiter in die Bunderepublik gegangen oder mussten während des Bürgerkrieges in der 90er Jahren als Flüchtlinge in den westlichen Staaten Schutz suchen, doch die aktuelle Auswanderungswelle aus dem kleinen Westbalkanstaat, der offiziell weiterhin rund 3,2 Millionen Einwohner zählt, bezeichnen viele Experten vor Ort als “beispiellos” und “furchtbar für die eigene Gesellschaft”.
Meinung
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Nach Angaben der “Union für nachhaltige Rückkehr und Integration” hätten allein 2021 rund 170.000 Menschen das Land verlassen. Die Nichtregierungsorganisation befasst sich seit Jahren mit der Migration und arbeitet hierfür mit lokalen Behörden und Verbänden zusammen, denn offizielle Statistiken über die ausgewanderten Bürger gibt es nicht. Viele melden sich auch nicht bei den Behörden ab, da sie zunächst nicht wüssten, wie lange der Aufenthalt im Ausland dauern wird. Doch auch die zusammengesammelten Daten zeigten eine “demographische Katastrophe”, wie es der Soziologe Amer Osmić aus Sarajevo mal bezeichnet hatte. Seit Jahren warnt der Professor von der Fakultät für Politikwissenschaften vor “verheerenden” Folgen der Abwanderung für sein Land, da es sich vor allem dabei um jüngere Bevölkerung handele.
Kenner des Westbalkans dürfte es deshalb nicht überraschen, dass Bosnien-Herzegowina nun den zweiten Platz in der Statistik belegt, wenn es um Zuwanderung der Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten nach Deutschland geht. Wie das Statistische Bundesamt (Destatis) am Freitag mitteilte, sei die Zahl der Ausländer, die aus Staaten außerhalb der Europäischen Union (EU) befristet zum Arbeiten nach Deutschland gekommen seien, in den vergangenen Jahren “deutlich gestiegen”. Innerhalb von zehn Jahren habe sich die Zahl “mehr als verdreifacht”.
Ende 2021 seien laut dem Statistischen Bundesamt insgesamt gut 295.000 Menschen im Ausländerzentralregister erfasst gewesen, die eine befristete Aufenthaltserlaubnis für eine Erwerbstätigkeit hierzulande bekommen hatten. Ende 2011 seien es noch gut 90.500 Menschen gewesen. Dabei seien Staatsangehörige Indiens am häufigsten (rund 33.900) in der Statistik vertreten, an zweiter Stelle kamen jene aus Bosnien-Herzegowina. Demnach würden derzeit rund 26.300 Bürger dieses Westbalkanstaates mit einem Arbeitsvisum in Deutschland leben. Den dritten Platz belegt das Kosovo (rund 19.600).
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Für das Rentensystem von Bosnien-Herzegowina wird dieser Trend laut lokalen Experten katastrophale Folgen haben. Bereits vergangenes Jahr zeigten die Zahlen, dass inzwischen ein Rentner auf 1,2 Beschäftigte im Land kommt. Angesichts der rückgängigen Geburtenrate, Auswanderung der Arbeitskräfte und der immer größer werdenden Zahl der Pensionäre dürfte dieses System in rund einem Jahrzehnt kollabieren. Denn, den offiziellen Zahlen zufolge seien 40 Prozent der Beschäftigten im Land über 50 Jahre alt und werden spätestens in 15 Jahren in die Rente gehen.
Zwar würden laut Analysten Menschen wegen der besseren Jobangebote auch in die Nachbarländer wie Serbien oder Kroatien ziehen, doch der Trend, das Land Richtung Deutschland oder Österreich zu verlassen, ebbe nicht ab. Dies liege vor allem an den vereinfachten Bedingungen für die Erteilung eines Arbeitsvisums. Um qualifizierte Arbeitskräfte anzulocken, hatte Berlin den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt vereinfacht. Zudem gibt es für bestimmte Jobprofile wie etwa Pflegekräfte Vermittlungsagenturen, die für Interessierte unter anderem einen Arbeitgeber hierzulande finden.
Auf der anderen Seite tut die Politik in Bosnien-Herzegowina nichts, um die Abwanderung zu stoppen. Die Gründe für diesen Trend sind seit mehr als einem Jahrzehnt bekannt: Arbeitslosigkeit, mangelnde Perspektive im jeweiligen Job, Vetternwirtschaft oder schlechte Lage der Beschäftigten im privaten Sektor. Erst in den letzten Jahren kam ein weiterer Grund dazu: Die schwindende Hoffnung, dass sich die politische und wirtschaftliche Lage im Land ändern könnte. Laut Experten ist dies auch die Ursache dafür, warum zuletzt nicht mehr nur ein Familienmitglied ins Ausland geht, sondern sich nun komplette Familien für diesen Schritt entscheiden.
Während sich ein Teil der Bevölkerung mit dem System arrangiert hat und dank der Jobs in der öffentlichen Verwaltung oder in noch profitablen Staatsunternehmen mehr oder weniger ein gutes Leben führt, haben andere wiederum fast gar keine Chance mehr, ohne politische Unterstützung einen sicheren Arbeitsplatz zu bekommen. Zudem fehlt es dem Land laut Experten an mittelständischen Privatunternehmen, die auch anständige Löhne zahlen würden.
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“Entweder du bist Mitglied bei der regierenden Partei und schaffst es so, einen unbefristeten Job in der Gemeindeverwaltung zu ergattern, kannst dann einen Kredit aufnehmen und dir eine Wohnung kaufen, oder du wartest auf eine Veränderung der Situation, wirst Kellner, verdienst 300 Euro im Monat und lebst weiterhin bei deinen Eltern”, erklärt es Miloš gegenüber RT DE . Der 35-jährige hat Wirtschaft studiert und entschied sich vor rund drei Jahren, Bosnien-Herzegowina zu verlassen. Heute lebt er in München und arbeitet als Kurierdienstfahrer. Wohlhabend werde er damit nicht, wie er selbst sagt, doch mit besseren Deutschkenntnissen hofft er, demnächst einen besseren Job zu finden. Einige seiner bosnischen Bekannten hätten inzwischen hierzulande eine Pflegeausbildung begonnen. Er überlege noch.
Der 37-Jährige Željko nennt wiederum andere Gründe. Der IT-Experte habe sein Land verlassen, weil er sich in Bosnien-Herzegowina in seinem eigenen Beruf nicht weiterentwickeln konnte. Das Land vernachlässige die IT-Branche, die Investitionen fehlten.
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