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In den USA ist man bereit, sich an die Kehle zu gehen

In den USA ist man bereit, sich an die Kehle zu gehen

© Myotus, CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia CommonsZelte Wohnungsloser auf Parkplatz in Minneapolis, USA, September 2023

Von Dagmar Henn

Die politische Spaltung in den Vereinigten Staaten vertieft sich. Nachdem es vor allem die außenpolitischen Entscheidungen sind, die international wahrgenommen werden, entsteht der Eindruck einer weitgehenden Übereinstimmung, die sich im US-Kongress etwa an den Themen Ukraine und Israel zeigt; aber es gibt eine Reihe von Themen, in denen die Positionen der beiden Parteien weit voneinander abweichen.

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Das Durcheinander in den politischen Begriffen, deren Bedeutung sich in den vergangenen Jahrzehnten gewaltig verschoben hat, herrscht in den USA wie in Europa. Ein einfaches Beispiel war das Lied “Rich Men from Richmond”; ein Stück, das sowohl vom Stil als auch vom Inhalt in die Tradition linker Liedermacher wie Woodie Guthrie gehört, aber von einem großen Teil der gegenwärtigen “Linken” irgendwo rechts einsortiert wurde. Denn eine der Wirkungen der ideologischen Verwirrung besteht darin, dass der einfache Wunsch gewöhnlicher Leute, in Frieden zu arbeiten, eine Familie zu gründen, ein gemeinschaftliches Umfeld und die nötige soziale Sicherheit vorzufinden, mittlerweile auf verschiedenste Arten als “rechts” definiert wird.

Diese Verschiebungen im Blick zu behalten, ist insbesondere dann wichtig, wenn man es mit Umfragen zu tun hat. Jetzt, zu Beginn des Vorwahlkampfes, werden die Meinungsforschungsinstitute reger und es wird in den nächsten Monaten Dutzende Umfragen geben. Aber was macht man nun, wenn eine Frage lautet: “Wenn Sie über soziale Themen nachdenken, würden Sie sagen, dass Ihre Ansichten zu sozialen Themen eher progressiv, moderat oder konservativ sind?” Inzwischen gilt auch die Abschaffung der Polizei und die Öffnung des Militärs für Transgender als progressiv. Das ist natürlich eine plakative Auswahl, aber solche Begriffe ergeben keine wirkliche Aussage mehr. Und die Untersuchungen über die soziale Zusammensetzung der Wählerschaft haben nach den letzten US-Präsidentenwahlen auch ergeben, dass große Teile der Arbeiterschaft, die traditionell Wähler der Demokraten waren, inzwischen zu den Republikanern geschwenkt sind.

Joe Biden: USA werden eine "neue Weltordnung" aufbauen

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Nun endlich zu der Umfrage, die diesen Text ausgelöst hat. Das Umfrageinstitut, Project Home Fire, gehört zum politikwissenschaftlichen Institut der University of Virginia, und soll nach den Aussagen auf seiner Webseite über das Instrument der Meinungsforschung dazu beitragen, die politisch-kulturelle Spaltung in den USA in den Griff zu bekommen. Die Erhebung selbst wurde im August und September online erstellt, unter 2008 Wählern, und, wie bei derartigen Umfragen erforderlich, anschließend rechnerisch so korrigiert, dass sie repräsentativ wird; das heißt, die Zuverlässigkeit des Ergebnisses hängt an der Zuverlässigkeit des Rechenmodells.

Die meisten Fragen sind das, was man üblicherweise im Vorlauf zu Wahlen erwartet. Auf die Frage nach dem wahrscheinlich gewählten Präsidentschaftskandidaten antworteten 40 Prozent “Demokraten”, 35 Prozent “Republikaner” und 25 Prozent entschieden je nach Kandidat. Nachdem bisher alles so aussieht, als würde US-Präsident Joe Biden noch einmal zur Wahl antreten, betrifft das vorwiegend die potenziellen Wähler der Republikaner. Nach ihrer Neigung zu einer Partei befragt, antworteten 44 Prozent “Demokraten”, 38 Prozent “Republikaner” und 18 Prozent “Unabhängige/ Andere”. Dabei erreichte US-Präsident Joe Biden bei den Anhängern seiner eigenen Partei eine Zustimmung von 88 Prozent, und Donald Trump, sofern er der republikanische Kandidat wird, eine Zustimmung von 90 Prozent.

Es gibt auch jeweils eine Frage zu den Positionen bei Wirtschafts- und Sozialthemen. Wie oben bereits erwähnt, ist es hier sehr schwierig, zu erkennen, was damit tatsächlich gemeint ist. Wer sich für diese Ergebnisse interessiert, kann sie in der oben verlinkten Umfrage nachlesen.

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Wirklich spannend sind allerdings ganz andere Fragen. Wieder einmal taucht die Frage nach einer Sezession auf; ein Thema, das bereits vor zwei Jahren von einem anderen Institut abgefragt wurde, dessen Ergebnisse man nur als bedrohlich bezeichnen konnte. Hier könnte die Unterstützung leicht zurückgegangen sein – derzeit würden 41 Prozent der republikanischen, aber auch 30 Prozent der demokratischen Wähler eine Trennung von den von der jeweils anderen Partei regierten Bundesstaaten befürworten. Vor zwei Jahren gab es einen Gesamtwert von 37 Prozent. Allerdings bleibt die Tatsache, dass bei der Wählerschaft beider Parteien der Anteil derjenigen, die bereit wären, die Vereinigten Staaten zu teilen, bei oder über 30 Prozent liegt. In der wirklichen Welt gibt es inzwischen deutliche Wanderungsbewegungen, in denen sich die beiden Gruppen voneinander trennen.

Noch schwieriger werden die nächsten Antworten. Man stelle sich ein derartiges Ergebnis einmal in Deutschland vor. 31 Prozent der Trump-Wähler, aber auch 24 Prozent der Biden-Wähler stimmen folgender Aussage zu:

“Die Demokratie ist nicht länger ein tragfähiges System, und Amerika sollte alternative Formen der Regierung erkunden, um Sicherheit und Fortschritt zu gewährleisten.”

Wobei auch hier Vorsicht angesagt ist. Wie viele, die diese Frage bejaht haben, antworteten eigentlich auf die Frage, ob der gegenwärtige konkrete Zustand in den Vereinigten Staaten noch tragfähig ist, sprich, es Reformen bräuchte, und nicht auf eine Frage nach der Demokratie an sich? Bei großen Umfragen kann man Glück haben, und es gibt eine Kontrollfrage, die diesen Punkt klärt. Das ist hier leider nicht der Fall.

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Tatsächlich sind aber beide Seiten bereit, die Meinung- und Versammlungsfreiheit zu beschränken. Lautet die Begründung dafür, die Gefühle von Minderheiten zu schützen, tragen das mehr Biden-Wähler mit (31 zu 25 Prozent), lautet sie, unpatriotische und illoyale Aussagen einzuschränken, mehr Trump-Wähler (37 zu 24 Prozent).

Die Bewertung der letzten Präsidentenwahlen unterscheidet sich noch immer, aber nicht ganz so extrem, wie vielleicht erwartet – 56 Prozent der Trump-Wähler denken, dass die Wahl manipuliert war, 88 Prozent der Biden-Wähler sind überzeugt, dass alles korrekt gelaufen sei. Die größte Übereinstimmung zwischen beiden Wählerschaften findet sich bei der Aussage: “In den vergangenen 40 Jahren sind die Reichen viel reicher geworden, die meisten Amerikaner haben aber wenig davon gehabt.” Diese Aussage tragen 81 Prozent der Wähler mit. Davon sind 57 Prozent Biden-Anhänger und 43 Prozent Trump-Befürworter.

Eine tiefe Unzufriedenheit und vor allem ein tiefes Misstrauen sind jedenfalls nicht zu leugnen, und die Sicht der einen Seite auf die andere besitzt eine Schärfe, die ungewöhnlich ist – vor allem angesichts eines Zwei-Parteien-Systems, das noch weit weniger die realen Interessen in der Gesellschaft abbildet als das europäische.

Während 68 Prozent der Trump-Wähler davon überzeugt sind, dass die Wahl von Vertretern der anderen Partei in Staatsämter dem Land dauerhaften Schaden zufügt, sind es unter den Biden-Wählern sogar 70 Prozent. Auch meinten 47 Prozent der Trump-Wähler und 52 Prozent der Biden-Wähler, dass Personen, die die andere Partei unterstützen, eine Bedrohung für die amerikanische Lebensweise darstellten, und 39 Prozent der Trump-Wähler und 40 Prozent der Biden-Wähler würden eine Stimmabgabe für die jeweils andere Partei als Verrat an ihrem persönlichen Umfeld betrachten. Dass das Ziel die Mittel rechtfertige, befürworteten 31 Prozent der Trump-Wähler und 21 Prozent der Biden-Wähler. Das beunruhigendste Ergebnis ist allerdings folgendes: 38 Prozent der Trump-Wähler und 41 Prozent der Biden-Wähler stimmen der Aussage zu, dass die Wähler der anderen Partei derart extrem in ihren Ansichten sind, dass der Einsatz von Gewalt gerechtfertigt sei, um sie am Erreichen ihrer Ziele zu hindern.

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Es ist der letzte Punkt, der geradezu verstörend ist. Einsatz von Gewalt, um das Erreichen der Ziele zu verhindern? Die letzten Monate haben bereits gezeigt, wie der Justizapparat in Bewegung gesetzt wurde; das Vorgehen gegen Donald Trump beschreiben viele als “lawfare”, eine Kreuzung aus law, Gesetz, und warfare, Kriegsführung. Vor der Wahl 2020 gab es die Russiagate-Affäre mit dem Vorwurf, Trump sei zu russlandfreundlich, die sich am Ende als Elaborat aus dem Umfeld britischer Geheimdienste erwies. Diese Umfrageergebnisse legen nicht nur nahe, dass solche Manöver von großen Teilen der jeweiligen Anhängerschaft gebilligt würden, sondern vor allem, dass die Instrumentalisierung der Justiz noch lange nicht das Ende der möglichen Entwicklung darstellt.

Vielleicht ist es ja so, dass man kein Feindbild im Äußeren schaffen kann, ohne dass es nach innen zurückschlägt. Vor zwei Jahren wurde die relativ hohe Zustimmung zur Sezession noch als Alarmsignal gesehen, doch eine Sezession könnte auch ein friedlicher Prozess sein. Aber eine Zustimmung zur Anwendung von Gewalt, die beidseitig um die 40 Prozent liegt? Das ist noch weitaus gefährlicher. Geht es dabei “nur” um staatliche Gewalt oder droht hier ein Umschlagen in gewaltsame Konflikte quer durch das ganze Land?

Die Universität Virginia warnte in ihrer Veröffentlichung zu diesem Ergebnis davor, es zu ernst zu nehmen. Schließlich hätte es auch eine Umkehrfrage gegeben: “Egal, wie extrem die Unterstützer der anderen Seite aus meiner Sicht geworden sind, es ist nicht akzeptabel, sie mit Gewalt an der Erreichung ihrer Ziele zu hindern.” In dieser Variante gäbe es Zustimmung zu Gewalt nur noch bei 14 Prozent der Trump-Anhänger und bei 12 Prozent der Biden-Anhänger.

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Interessanterweise ist diese Kontrollfrage nicht Teil der Veröffentlichung, sondern findet sich nur auf der Seite der Universität, wie, nebenbei bemerkt, noch eine Reihe weiterer Fragen. Aber man soll sich nicht täuschen lassen, selbst dieses Ergebnis wäre immer noch gefährlich hoch. Es gibt historische Untersuchungen, die besagen, dass der Anteil der Menschen, die bereit sind, für ein bestimmtes Ziel alle Mittel einzusetzen, nur bei 5 Prozent liegen müsse, damit die politische Stabilität gefährdet sei.

Das sieht eher so aus, als würde die Universität versuchen, dieses Ergebnis zu entschärfen. Dennoch könnte es einer der Gründe sein, warum zu Wochenbeginn auf Axios berichtet wurde, Insider des Weißen Hauses fürchteten “innere Unruhen”. Das Ergebnis dieser Umfrage dürfte die Regierungskreise noch vor der Öffentlichkeit erreicht haben, und es ist schwer schönzureden.

In vielen Punkten erinnert der soziale Zustand der Vereinigten Staaten inzwischen eher an das ausgehende neunzehnte Jahrhundert als an die Blüteperiode des zwanzigsten. Die Zelte, in denen die Armen hausen, sind nicht mehr aus Segeltuch, sondern aus Polyester oder durch Autos ersetzt. New York hat inzwischen sogar besondere bewachte Parkplätze für Menschen ausgewiesen, die in ihren Fahrzeugen leben müssen, damit sie besser ihrer Arbeit nachgehen können.

Die Diskrepanz zwischen dem äußeren Auftreten und dem inneren Zustand ist enorm. Wenn man aber vom Zerfall einer Gesellschaft spricht, ist das kein linear ablaufender Prozess, bei dem man an jedem Punkt des Abstiegs berechnen könnte, wie weit der Moment noch entfernt ist, an dem sich die vorhandene Ordnung auflöst. Der letzte Schritt erfolgt immer plötzlich. Bis dahin kann man nur die Anzeichen zählen. Wenn aber die Bereitschaft zur inneren Gewalt zu steigen beginnt, ist ein solcher Zerfallsprozess schon sehr weit fortgeschritten.

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Nicht, dass die gegenwärtige Machtstruktur in den USA, die weltweit die Interessen einer winzigen Oligarchie vertritt, etwas Erhaltenswertes wäre, aber ein solcher Moment einer tiefen gesellschaftlichen Krise kann nicht nur in einer Veränderung zum Guten resultieren. Es ist vielmehr so, dass er nur dann dieses Ergebnis haben kann, wenn es Kräfte gibt, die zum einen die brennendsten gesellschaftlichen Fragen beantworten könnten und zum anderen eine Grundlage bieten, wieder einen Konsens herzustellen. Gibt es sie nicht, lautet das Ergebnis nicht Befreiung von dieser oder jener Herrschaft, sondern tatsächlich Zerfall aller komplexeren Strukturen.

Die gewaltige Begriffsverwirrung, die es unmöglich macht, “progressiv” oder “konservativ” sinnvoll zu definieren und den darin verkörperten Interessen zuzuordnen, ist zwar den augenblicklich bedienten Interessen der Oligarchie nützlich, führt aber zu einer entscheidenden Schwächung jener Kräfte, die der Erosion entgegenwirken könnten. Ich versuche einmal, das einfacher zu formulieren:

Wenn eine Gesellschaft so tief im Dreck steckt, dass Infrastruktur, Verwaltung, Zuversicht und die Gültigkeit selbst der grundlegenden Gebote menschlichen Zusammenlebens auseinanderbrechen, dann kann das nur entlang der Linien aufgefangen werden, die von den Interessen großer gesellschaftlicher Gruppen bestimmt sind. Man könnte sagen, dass der “Contract Social” neu ausgehandelt werden müsse. Wenn es aber tabuisiert ist, diese Interessen wahrzunehmen und auszusprechen, weil es als unmoralisch gilt (ein Schritt, den beispielsweise die Klimaideologie unternimmt), dann fehlt die Verhandlungsgrundlage, um einen Neuanfang zu ermöglichen.

Der Umbruch, der gerade weltweit geschieht, hat natürlich Rückwirkungen auf die Vereinigten Staaten (selbstverständlich gilt das auch für Europa). Wenn sich die Souveränitätsbestrebungen des Globalen Südens durchsetzen – und das werden sie – wird das unvermeidlich eine schwere wirtschaftliche Krise in jenen Ländern auslösen, die von der bisherigen Ordnung profitiert haben. Um diese Krise mildern zu können und einen Platz in der neuen ökonomischen Struktur zu finden, wäre es unverzichtbar, auf Grundlage der volkswirtschaftlichen Notwendigkeiten und im Interesse der überwiegenden Mehrheit zu handeln. Ist das nicht möglich, dann entfaltet sich diese Krise auf allen Ebenen, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch, sozial und moralisch.

Dieser Umbruch wird sich mit allem Einsatz für die Interessen der Oligarchie nicht verhindern lassen. Die Zuspitzung, die sich in den USA entlang der im Kern etwas bizarren Linie “Demokraten gegen Republikaner” abzeichnet, ist für die Möglichkeit damit umzugehen, ein ausgesprochen schlechtes Zeichen. Dass dabei nun auch die Bereitschaft auftaucht, Gewalt einzusetzen, erhöht die Gefahr weiter, dass diese Gesellschaft auf eine lange Phase des Chaos zusteuert.

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