© AP Photo/Manuel Balce Ceneta Symbolbild.
Von Pjotr Akopow
An diesem Wochenende finden im saudi-arabischen Riad zwei außerordentliche internationale Gipfeltreffen statt. Denn das Massaker im Gazastreifen, das nun schon zwei Monate andauert, ist nicht nur zu einer regionalen, sondern auch zu einer globalen Krise geworden, mit der ständigen Gefahr einer Eskalation und nahezu garantierten schlimmen Folgen. Schließlich handelt es sich nicht nur um ein weiteres Blutbad im Nahen Osten, sondern um einen wachsenden Konflikt zwischen der westlichen und der islamischen Welt. Die “Goldene Milliarde” steht der zwei Milliarden zählenden muslimischen Umma gegenüber: dreieinhalb Dutzend Staaten auf der einen und fünfundfünfzig auf der anderen Seite. Der Konflikt des Westens mit dem Islam ist jedoch auch eingebettet in den umfassenderen Konflikt des Westens mit dem Globalen Süden (der die Mehrheit der Menschheit repräsentiert) und den Konflikt des Westens mit der nichtwestlichen Welt (dem Süden sowie China und Russland). Die palästinensische Frage spaltet die Welt seit einem Dreivierteljahrhundert, aber erst jetzt ist sie zu einem so klaren Symbol für die Trennung zwischen dem Westen und dem Rest der Menschheit geworden, weil sie den Bankrott des gesamten Modells der Atlantik-Hegemonie offenbart hat.
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Alternativen zu den atlantischen Modellen der globalen Sicherheitsarchitektur befinden sich erst im Aufbau. Erwähnenswerte Beispiele sind die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (potenziell panasiatisch) und die BRICS (potenziell global). Daher können die USA bisher immer noch versuchen, nach den alten Regeln zu spielen. Sie könnten in Europa die NATO und im Nahen Osten ihre eigene militärische Überlegenheit nutzen, um ihr bevorzugtes Prinzip des “Teile und Herrsche” anzuwenden. Wer könnte ihnen wie etwas entgegensetzen?
Russland und China sind eindeutig gegen die US-amerikanische Politik, jede israelische Torheit abzusegnen, aber das ist nur ein Teil der Widersprüche zwischen Moskau und Peking einerseits und Washington andererseits. In erster Linie müssen die Araber und die islamische Welt für Gaza kämpfen – und es sind ihre Staats- und Regierungschefs, die an diesem Wochenende zu einem Gipfel in Riad zusammenkommen.
Zunächst findet heute das Gipfeltreffen der Arabischen Liga statt, einer Vereinigung von 22 Ländern, die zusammen eine halbe Milliarde Einwohner zählen. Die Liga schließt den Staat Palästina ein, den Israel derzeit zerstört, und wer könnte besser für ihn eintreten als die Araber, die schon mehrmals gegen Israel um Palästina gekämpft haben?
Ja, seit dem letzten Krieg ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Seitdem hat lediglich Israel es sich erlaubt, den Libanon anzugreifen. Ja, seitdem haben einige arabische Länder (darunter die Nachbarn Ägypten und Jordanien) sogar diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen. Und ja, die russische Militärpräsenz in der Region ist nicht mit der der Sowjetunion zu vergleichen. Außerdem haben die US-Amerikaner hart daran gearbeitet, Iran zum Hauptfeind der Araber zu machen.
Zum Schutz der Palästinenser müssen die arabischen Länder jedoch nicht in den Krieg gegen Israel ziehen – sie müssen ihm den US-amerikanischen Freibrief und die bedingungslose Unterstützung des Westens abringen. Das heißt, die Frage wird auf der Ebene der Beziehungen zwischen den arabischen Staaten und den USA (und dem Westen insgesamt) gelöst, nicht auf dem Schlachtfeld. Werden die Araber in der Lage sein, die Haltung der USA zu ändern?
Die proisraelische Ausrichtung Washingtons hat sehr tiefe Gründe und Wurzeln, und die derzeitige US-amerikanische Elite wird sie nicht aufgeben. In Europa sind die Dinge jedoch nicht so eindeutig: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt die Bombardierungen des Gazastreifens nicht und in einigen Ländern sprechen die führenden Politiker bereits offen über die Notwendigkeit, Israel zur Verantwortung zu ziehen. Außerdem drohen den europäischen Ländern durch die andauernden Übergriffe auf Palästinenser innenpolitische Probleme. Die lokalen muslimischen Gemeinschaften sind nicht bereit, zu schweigen und ihre Proteste zu unterlassen. Den europäischen Ländern, die mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen haben und gleichzeitig in den Ukraine-Konflikt verwickelt sind, stehen kurz vor Massenunruhen und Zusammenstößen innerhalb der eigenen Grenzen.
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Europas Position ist also weit weniger proisraelisch, und wenn es schon bald darauf bestehen sollte, die Hilfe für Israel in dem Massaker einzustellen, werden die USA gezwungen sein, dem Gehör zu schenken. Denn Washington kann die Meinung Europas nicht mehr einfach ignorieren, insbesondere angesichts der Situation in der Ukraine, wo die Atlantiker von der EU ein stärkeres Engagement fordern. Können die Araber Europa beeinflussen? Natürlich können sie das, und zwar nicht nur, weil sie Paris und London aufgekauft haben.
Die Arabische Liga könnte zu einem Energieembargo gegen die Länder aufrufen, die Israel unterstützen, was Europa eindeutig zu einem Friedensstifter machen würde. Die bloße Andeutung einer Wiederholung der Ereignisse von 1973 (als die Länder der Arabischen Liga während des arabisch-israelischen Krieges ein Verbot von Öllieferungen an westliche Länder verhängten) hätte enorme Auswirkungen auf den gesamten Westen. Bislang will die saudische Führung nicht zu einer solchen Maßnahme greifen, offenbar in der Hoffnung, dass die US-Amerikaner in der Lage sein werden, Israel zu beeinflussen. Schließlich scheint es auch in ihrem Interesse zu sein, meint der saudische Kronprinz Mohammed. Weder US-Präsident Joe Biden noch die USA als Ganzes können das Blutbad in Gaza gebrauchen, das in der islamischen Welt mit jedem Tag den Rest an Vertrauen und Respekt für die USA weiter zunichtemacht. Bislang hat Washington jedoch so gut wie nichts beim israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu erreicht, und es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass die US-Amerikaner von sich aus beschließen werden, ihren inoffiziellen Druck auf Israel zu verstärken.
Angesichts eines drohenden Konflikts mit Europa (wegen einer möglichen Energiekrise) könnte Washington aber durchaus echten Druck auf Israel ausüben. Das würde ausreichen, damit Netanjahu die Macht verliert und die Luftangriffe auf Gaza aufhören.
Doch dazu muss die Arabische Liga eine harte und unmissverständliche Position einnehmen, die ihren Interessen entspricht – nicht nur taktisch (Rettung des Gazastreifens), sondern auch strategisch (wenn es um das Gewicht der Araber in der neu entstehenden post-amerikanischen Weltordnung geht). Die Araber müssen dem Westen ein Ultimatum stellen.
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Und wenn sie auch noch von der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) unterstützt werden, deren Gipfel am Sonntag in Riad stattfindet, wird die Lage noch ernster. Die OIZ vereint 55 Staaten mit einer Bevölkerung von zwei Milliarden Menschen – die gesamte islamische Welt, einschließlich Iran, Pakistan und Indonesien. Übrigens hat auch Russland einen Beobachterstatus in der OIZ, denn wir sind sowohl ein eurasisches und christliches Land als auch ein teilweise islamisches Land. Jetzt hängt also viel davon ab, was in Riad vereinbart wird – nicht nur über das Leben der Palästinenser in Gaza, sondern auch darüber, wie schnell der Prozess der Deamerikanisierung des Nahen Ostens und der Deatlantisierung der gesamten Weltordnung voranschreiten wird.
Übersetzt aus dem Russischen. Erstveröffentlichung am 11. November 2023 bei RIA Nowosti.
Pjotr Akopow ist Kolumnist und Analytiker bei RIA Nowosti.
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