Italien verringert Abhängigkeit von russischem Gas
Die Gelegenheit dazu kam im Januar 2022, und zwar mit der parlamentarischen Wahl des Präsidenten der Republik – des Staatsoberhaupts Italiens. Draghi wollte gern der Nachfolger vom Präsidenten Sergio Mattarella werden. Gleichzeitig hatte er vor, weiterhin irgendwie als Ministerpräsident zu agieren. Am 28.12.2021 schrieb Italiens zweitgrößte Tageszeitung La Repubblica :
“Draghi als Staatsoberhaupt würde ein Verbiegen präsidialer Befugnisse implizieren, ohne die er nicht in der ihm geistesverwandten prägnanten Weise agieren könnte.”
Diese ungelenke Formulierung bedeutet im Klartext: die Verfassung geeignet anzupassen, um Draghi die Möglichkeit zu geben, nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt weiter auch noch als Regierungschef agieren zu können. Von Draghi selbst kam keine Leugnung, und der Artikel von La Repubblica löste auch keinen Skandal aus. Weimar 2.0.? Eher eine Parodie dessen.
Eine bittere Niederlage
Denn Draghi hat überhaupt kein Gefühl für politische Verhandlungen und konnte die kommende, demütigende Niederlage nicht sehen. Wie jetzt eben. Er hätte sofort bestreiten müssen, dass er als Staatsoberhaupt niemals versucht hätte, auch als Regierungschef weiter zu agieren. Aber das hätte vielleicht zu viel Fingerspitzengefühl seinerseits erfordert.
Lega-Chef Matteo Salvini und Fratelli d‘Italia -Chefin Giorgia Meloni wollten eine Präsidentin, Italiens erste Präsidentin wählen. Dies hätte Salvini und Meloni gelingen können, wären da nicht die Parlamentarierinnen von Berlusconis Forza Italia Partei gewesen, die die Kandidatin Maria Elisabetta Alberti Casellati während des fünften Wahlgangs boykottierten.
Mattarella war bereit für den Umzug und hatte für sich schon ein neues Zuhause mit “drei Fenstern und einem kleinen Balkon” im Rom Stadtzentrum gefunden, nur zwei Minuten zu Fuß von der schönen Parkanlage Villa Borghese entfernt. Gerüchten zufolge, die jetzt in Rom kursieren, hatte Mattarella bereits Draghi sein Wort gegeben, nie eine zweite Amtszeit anzunehmen, und hätte ihm wohl auch geholfen, die Wahl zu gewinnen. Das erste Gerücht mag stimmen, aber das zweite klingt ziemlich unwahrscheinlich.
Die Wahl des neuen Präsidenten fand zwischen dem 24. und dem 29. Januar statt. Es gab insgesamt acht Wahlgänge. Da erlitt Draghi einen bitteren, demütigenden Niedergang. Die Stimmenanzahlen, die Draghi bekam, lauteten: 1 – 4 – 5 – 5 – 3 – 5 – 2 – 5. Wie hätte Mattarella da Draghi noch “helfen” können? Mattarella gewann stattdessen seine zweite Amtszeit. Das ist der Hintergrund zu Draghis jetzigem Rücktritt.
“Draghis technokratischer Traum ist zerplatzt”
In derselben Weise wie sein Vorgänger Conte – nur noch schlimmer – hat Draghi das Parlament stets umgangen und Gesetze per Dekret erlassen, die oft durch ein Vertrauensvotum untermauert wurden. Sogar bei Regierungssitzungen schien Draghi oft zum Diktat zu neigen, anstatt seine Entscheidungen mit den Koalitionsparteien zu diskutieren.
Und in der Vertrauensfrage über noch ein weiteres Gesetzesdekret haben die Parlamentarier der Fünf-Sterne-Bewegung, die Draghi im Januar den Rücken gekehrt hatten, ihn diesmal zum Rücktritt als Ministerpräsident gedrängt. Die Draghi-Regierung wurde vom Präsidenten Mattarella ausdrücklich gewünscht:
“Italien braucht eine hochkarätige Regierung”, sagte Mattarella nach der Einsetzung Draghis, “der sich mit keiner politischen Formel identifizieren muss.”
Doch jetzt hat sich für Draghi genau das ergeben: die Notwendigkeit, seiner Regierung eine politische Dimension zu geben, zum Beispiel im Sinne einer Vereinbarung mit den Koalitionsparteien, angefangen mit der Fünf-Sterne-Bewegung.
Rom: Wütende Taxifahrer versuchen, Parlament zu stürmen
Dies jedoch möchte Draghi nicht. Er wollte zwar regieren, jedoch ohne jegliche politische Erfahrung und Neigung. Und ohne dadurch ein Politiker zu werden. Für ihn gilt noch immer der Autopilot der EU. So wie die Märkte “keine Angst vor den Wahlen haben”, hat Draghi keine Lust auf parlamentarische Diskussionen.
Draghi sah immer das Amt des Ministerpräsidenten vor allem als ein geegnetes Mittel, um am Ende ein höheres und noch begehrteres Amt zu erreichen – das Amt des Präsidenten der Republik. Seit es Draghi Ende Januar nicht gelang, Italiens Präsident zu werden, wirkte er zunehmend demotiviert, geschwächt und verwirrt. Und offenbar hat ihn die zweite Amtszeit Mattarellas (nun bis ins Jahr 2029) schon irritiert.
“Draghis technokratischer Traum ist zerplatzt”, schrieb Marco Risé am 17. Juli in der Tageszeitung La Verità : “Der Rückzug des Bankiers zeigt, wie schwierig es ist, technische Bewertungen mit politischen Entscheidungen in Einklang zu bringen. Von den Bürokraten unterschätzt, aber entscheidend für den Machterhalt.”
Gleichgültigkeit der Italiener
Last, but not least, das italienische Volk. Es spielt seit Jahren keine große Rolle mehr bei diesen Sachen, dank des EU-Autopiloten. Und doch: wie ist die Stimmung im Land? Wenn man ehrlich sein muss, scheinen die Italiener an der Regierungskrise nicht besonders interessiert zu sein. Dies ist den italienischen Medien auch schon aufgefallen: über das Wochenende gab es in den Schlagzeilen keinerlei Spannung mehr zu spüren.
Es gibt ja einige leicht zu erratende Gründe dafür: Regierungskrisen sind ja durchaus üblich in Italien; und man ahnt, dass es schon wieder ein Fall dafür ist – wie man auf Italienisch sagt – dass “sich alles ändern muss, damit alles so bleibt, wie es vorher war”. Aber es ist 2022, das dritte Jahr des “pandemischen Zeitalters”. Und der Wunsch, zur Normalität zurückzukehren, führt dazu, dass die Italiener die Ungeheuerlichkeit des kommenden Herbstes nicht wahrnehmen.
Und wie die Deutschen erleben auch die Italiener “den Moment der Müdigkeit” bezüglich des Ukraine-Konflikts. Dasselbe gilt für die vierte Impfdosis, für den kommenden Stromausfall, die steigenden Gas-Preise, die damit verbundene Inflation und so weiter.
Eines ist Draghi bestimmt nicht gelungen: die Russland-Hetze in Italien zu verbreitern. Einer Umfrage der European Council on Foreign Relations zufolge halten nur die 56 Prozent der Italiener Russland für den Konflikt für schuldig. “Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern”, berichtete am 15. Juni Italiens größte Tageszeitung Corriere della Sera , “gibt es in Italien den geringsten Anteil an Russlandkritikern”.
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