Meinung

Putin zitierte fünf Denker

Putin zitierte fünf Denker

Quelle: Legion-media.ru © Julen MirUnter den zitierten Denkern befand sich auch Lenin.

Von Alexei Sensinow

Die zeitliche Distanz, die uns von diesem Ereignis trennt, erlaubt es uns, von voreiligen Urteilen abzusehen. Betrachten wir den Teil der Rede, der normalerweise als zusätzliche Belastung empfunden wird – die Zitate.

In welchen Fällen werden diese in der Regel eingesetzt? Wenn man die Richtigkeit eigener Schlussfolgerungen durch die Berufung auf eine unanfechtbare Autorität bestätigen will. Oder wenn der Zitierte eine brillante, unerwartete, das Wesentliche treffende, geistreiche Formulierung gegeben hat. Seltener können, aber es kommt vor, der erste und der zweite Fall zusammen auftreten. Der Präsident hob die in seiner Rede verwendeten Zitate hervor und dankte auch seinen Mitarbeitern dafür, dass sie genau diese Thesen gefunden hatten. Es scheint übrigens das erste Mal zu sein, dass ein Staatsoberhaupt öffentlich einräumt, dass der Text einer Grundsatzrede das Ergebnis einer kollektiven Anstrengung war.

Putins Waldai-Rede 2022: "Das Spiel des Westens ist gefährlich, blutig und schmutzig"

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Umso interessanter ist es, sich die einzelnen Zitate genauer anzusehen und zu versuchen zu verstehen, was sich dahinter verbirgt. In seiner Grundsatzrede (denn wir wollen uns hier nicht mit den Antworten auf die Fragen befassen, da das ein anderes Genre ist) zitierte Putin fünf Autoren – vier davon namentlich, den fünften umschrieb er “mit den Worten eines Klassikers”. Es ist unwahrscheinlich, dass die ausländischen Gäste des Waldai-Klubs ohne einen Tipp erraten konnten, wen der Präsident meinte, aber diejenigen, die eine sowjetische Schule besucht hatten, verstanden sofort: dieser “Klassiker” ist Lenin.

Die fünf Denker also, von denen drei auch Schriftsteller waren, sind Solschenizyn, Dostojewski, Sinowjew, Danilewski und Lenin. Alle Autoren, ausgenommen vielleicht Wladimir Iljitsch Lenin, sind in den Jahren der Perestroika, den Jahren der turbulenten öffentlichen Debatte, häufig in Erinnerung gerufen worden. Vier von ihnen waren Konservative, Kritiker der westlichen Demokratie; der fünfte war ein Revolutionär, der mit den anderen eines gemeinsam hatte: seine Verurteilung der Abscheulichkeiten der bürgerlichen Ordnung.

Den Auftakt bei den Zitaten machte Alexander Solschenizyn mit seiner berühmten Harvard-Rede, wie Putin sagte. Nun ist diese Rede in der Tat unvergesslich – denn danach begann ein Großteil der Presse der “freien Welt” den “Exilanten aus Vermont” zu mobben. Und wofür? Schon allein wegen des von Putin zitierten Satzes über das “westliche Missverständnis des Wesens aller übrigen Welten”: “Die anhaltende Verblendung der Superiorität begünstigt die Vorstellung, dass sich alle großen Gebiete unseres Planeten nach den derzeitigen westlichen Systemen entwickeln und entfalten sollten …” Eine kurze Pause und ein Seufzer unseres Präsidenten: Das war “1978. Es hat sich nichts geändert.”

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Als nächster war Fjodor Michailowitsch Dostojewski an der Reihe. Aus der gesamten Hinterlassenschaft wurde der visionäre Roman “Die Dämonen” ausgewählt, der für die liberale russische Gesellschaft als “Fiktion”, “Unsinn”, “Fantasien eines Schriftstellers” inakzeptabel schien. Welche Vorstellungen hatten die russischen (und europäischen!) Verschwörer und Revolutionäre, die Vorläufer der radikalen Terroristen, von der Zukunft? “Aus grenzenloser Freiheit heraus kommend, ende ich mit grenzenloser Willkürherrschaft” – und dann: “Cicero wird die Zunge herausgeschnitten, Kopernikus werden die Augen ausgestochen, Shakespeare wird gesteinigt.” Die Prophezeiung wurde Wirklichkeit. “Darauf läuft es bei unseren westlichen Gegnern hinaus”, so Putin.

Auch das folgende Zitat aus dem Buch “Logische Soziologie” des russischen Philosophen Alexander Sinowjew dient der Bekräftigung der Schlussfolgerungen des russischen Präsidenten. Putin erinnerte sich an den Gedanken von Sinowjew, der vor zwanzig Jahren ausgesprochen wurde: Für das Überleben der westlichen Zivilisation auf dem Niveau, das sie erreicht hat, “ist der gesamte Planet als Lebensraum notwendig, alle Ressourcen der Menschheit sind notwendig”. Nach diesem Zitat kommentiert Putin sofort: “Diesen Anspruch machen sie geltend, so ist es.” Neben diesem Zitat ist eine Behauptung Sinowjews auch folgende: “Der Westen strebt keineswegs danach, die Menschheit wegen irgendwelcher abstrakter Ideale zu einer einzigen globalen Menschheit zu vereinen” – das sei vielmehr eine praktische Frage auf Leben und Tod. Übrigens ist das so oder so klar. Wer würde heute noch glauben, dass sich die westlichen Staats- und Regierungschefs von höheren Grundsätzen leiten lassen und nicht von praktischen oder – offen gesagt – selbstsüchtigen Interessen?

Der vierte von Putin zitierte Autor ist Nikolai Jakowlewitsch Danilewski. Er ist weniger bekannt als Dostojewski, Solschenizyn und Sinowjew. Offenbar kommt die Auffassung von Danilewski über das Wesen des Fortschritts der von Putin sehr nahe: Der Fortschritt besteht nicht darin, dass er nur in eine Richtung geht (in diesem Fall würde er bald aufhören), sondern darin, das “gesamte Feld, welches den Bereich der historischen Tätigkeit der Menschheit ausmacht, in allen Richtungen zu begehen … Daher kann sich keine Zivilisation rühmen, dass sie im Vergleich zu ihren Vorgängern oder Zeitgenossen in allen Aspekten der Entwicklung den höchsten Stand erreicht hat.”

Zu welchen Schlussfolgerungen sollen diese vier Zitate – das fünfte wird gesondert besprochen – das Publikum führen? Die Ansprüche des Westens auf Hegemonie, materielle Überlegenheit und geistige Führung sind unbegründet. Die abendländische Zivilisation ist nur eine von mehreren, die es auf diesem Planeten gibt.

Um seine Herrschaft zu behaupten, ist der Westen bereit, hybride Kriege zu inszenieren – und er tut dies bereits –, die zu einem globalen militärischen Konflikt eskalieren könnten.

Zu diesem Zweck werden extremistische Gruppierungen (“Dämonen”) eingesetzt, die als Provokateure fungieren und nationale, religiöse und soziale Konflikte schüren.

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Gleichzeitig werden unter dem Vorwand, die angeblich wachsende Aggressivität konkurrierender Zivilisationen zu bekämpfen, in den westlichen Ländern Regimes errichtet, die die Individualität unterdrücken und traditionelle Grundlagen und Werte leugnen. Gemessen an den Zitaten Putins ist dies eines der Szenarien für eine mögliche Zukunft. Die Aussichten sind nicht gerade rosig, allerdings sollten wir uns dann noch an ein Zitat des “Klassikers” Wladimir Lenin erinnern. Seinerzeit lernten wir die Anzeichen einer revolutionären Entwicklung auswendig: Die “oberen Klassen” können nicht mehr, die “unteren Klassen” wollen nicht mehr, wie sie sollen.

Aus welchem Grund entschied sich der Präsident, den kollektiven Westen an diesen  Gedanken Lenins zu erinnern? Möglicherweise ist es eine höfliche Warnung: Eine revolutionäre Entwicklung kann durchaus in eine Revolution umschlagen, wenn auch noch das dritte Kriterium erfüllt ist – die Bereitschaft der Massen zum entschlossenen Handeln. Bislang gibt es in Europa und den USA keine solche revolutionäre Begeisterung. Wer kann aber garantieren, dass sich das Zitat des “Klassikers” bis zum Frühjahr 2023 nicht mehr nur als eine Prognose, sondern dann als eine Diagnose darstellt?

Übersetzt aus dem Russischen, zuerst veröffentlicht in Wsgljad.

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