Quelle: www.globallookpress.com © Ashley Chan/Keystone Press Agency Blick aus einem ukrainischen Militärfahrzeug nahe Soledar im April 2023
Analyse von @Panzwaffle
Während man über die derzeitige physische und psychische Gesundheit von General Waleri Saluschny diskutiert, ist folgende Frage ebenso wichtig: Warum ist er gerade jetzt verschwunden – also nachdem die ukrainischen Streitkräfte Artjomowsk (Anm.: heute wird in der Ukraine der aus der Zarenzeit stammende Name Bachmut verwendet) aufgeben und sich mit Schmach auf rückwärtige Positionen zurückziehen mussten?
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Höchstwahrscheinlich, weil während der Schlacht um Artjomowsk kein einziges der strategischen Ziele, die ja Saluschny selbst gesetzt hatte, erreicht wurde.
Bereits im Dezember des letzten Jahres hatte er doch eine Liste mit strategischen Zielen für die ukrainischen Streitkräfte veröffentlicht – damals, als die Kiewer Führung fast täglich die Angriffsbereitschaft an Frontabschnitten und Brennpunkten erklärte, an denen sie kaum in der Lage zum Halten ihrer Verteidigungslinien war.
Welche Ziele hatte sich das ukrainische Militär also erklärtermaßen gesetzt?
Das erste – äußerst wichtige – strategische Ziel bestand darin, die verbliebenen Territorien zu halten. Denn laut Saluschny selbst sei es “15 Mal schwieriger”, Gebiete zurückzuerobern, als sie zu halten, und deshalb, so hieß es, “müssen wir durchhalten”.
Das zweite strategische Ziel bestand darin, Reserven anzuhäufen und sich auf einen künftigen Feldzug vorzubereiten. Interessanterweise bereitete Saluschny die ukrainischen Streitkräfte im Dezember 2022 nicht nur auf eine Gegenoffensive vor – sondern auch darauf, eine befürchtete russische Offensive von Januar bis März abzuwehren. Und zwar eine russische Offensive, die er aus mehreren Richtungen gleichzeitig erwartete, einschließlich von Angriffen auf Kiew und auf den südlichen Abschnitt der Front. (Ja, das meinte er ernst!)
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Bemerkenswerterweise wurde der Aufstockung der Reserven eine höhere Priorität eingeräumt als der Aufgabe, das Leben der ukrainischen Soldaten zu schonen. Insbesondere gab Saluschny von sich:
“Mögen mir die Soldaten in den Schützengräben verzeihen, aber es ist jetzt wichtiger, sich auf die Anhäufung von Reserven zu konzentrieren und sich auf die langen Schlachten vorzubereiten, die nächstes Jahr beginnen könnten.”
Mit anderen Worten: Soldatenleben und Rüstungsgüter wurden gegen Zeit eingetauscht – und diese wiederum wurde genutzt für … die Ausbildung weiterer Soldaten und die Anhäufung von Rüstungsgütern.
Das dritte Ziel war die Verstärkung der Luft- und Raketenabwehr. Saluschny war der (Anm.: durchaus korrekten) Ansicht, das ukrainische Stromnetz stehe am Rande eines Abgrunds und die Aufgabe, deshalb die Luft- und Raketenabwehr zu gewährleisten, sei auch mit den ersten beiden Zielen engstens verbunden.
Er schätzte daher ein, die weitere Zerstörung der Energieinfrastruktur werde sich sowohl negativ auf die Moral der ukrainischen Soldaten in ihren Stellungen auch in Artjomowsk auswirken, als auch die Ausbildung der Reservisten beeinträchtigen.
Und welche dieser strategischen Ziele sind erreicht worden? Wenn wir es kurz zusammenfassen: Keines, nicht ein einziges.
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Die ukrainischen Streitkräfte sind, nein wurden in Artjomowsk ausgeblutet, wo sie Zehntausende von ausgebildeten Kämpfern und Hunderte von Fahrzeugen und schweren Waffen verloren. Und an beidem mangelte es Kiew schon damals. Und am Ende war trotzdem diese Stadt für sie verloren.
Dennoch konnte durchaus Zeit für die Vorbereitung von Reserven gewonnen werden. Aber weder eine russische noch eine ukrainische Offensive (Anm.: Zum Verständnis einer klassischen Offensive des russischen Militärs empfiehlt RT DE die entsprechende Analyse des russischen Militärexperten Jewgeni Krutikow) hatte bisher stattgefunden. Gleichzeitig waren Kiews Truppen über den ganzen Zeitraum hinweg russischen Angriffen ausgesetzt. Und sie verloren ebendiese Männer, das Gerät und … ja, auch noch obendrein diese Zeitspanne.
Im gleichen Zeitraum ist es den russischen Streitkräften auch ohne Großoffensiven durchaus gelungen, ihre Positionen zu stärken. Und das ist mittlerweile ein ernsthaftes Problem für das ukrainische Kommando.
Außerdem ist zu bedenken: Menschliche und materielle Ressourcen gegen Zeit einzutauschen, in der man ohnehin Personal und Ausrüstung nur in kleinerer Zahl und Menge aufstellen kann, entbehrt wohl grundsätzlich jeder Logik.
Wie wir sehen, konnten auch Kiews Bemühungen um eine Verstärkung der Luftverteidigung und der Raketenabwehr nicht fruchten: Russland führt nach wie vor Angriffe mit Präzisions-Lenkflugkörpern und Kamikaze-Drohnen aus. Und das Spektrum der eingesetzten Angriffsmittel wurde sogar noch erweitert (ebenso wie das der Ziele – Anm. d. Red.).
Eine letzte Sache noch: Es gibt ein Axiom, nämlich dass der militärische Oberbefehlshaber für die wichtigsten strategischen Entscheidungen verantwortlich ist. Die Entscheidung, im August letzten Jahres die eigene Hand beherzt in den Fleischwolf von Bachmut zu schieben, wurde von Saluschny persönlich getroffen. Er traf auch eine ganze Kette nachfolgender Entscheidungen, die dem ukrainischen Militär den Fall der “Festung Bachmut” am 20. Mai unter gigantischen Verlusten bescherte.
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Wie groß diese Verluste waren? Das lässt sich unter Zuhilfenahme der Erfahrung diverser Kriege der jüngeren Geschichte abschätzen, für die bestimmte Statistiken veröffentlicht wurden. Beginnen wir mit den aktuell bekanntgegebenen Zahlen von Jewgeni Prigoschin, dem Chef des russischen privaten Militärdienstleisters Wagner:
Demnach verloren angeblich die ukrainischen Streitkräfte in neun Monaten des Sturms von Artjomowsk 50.000 Mann an Gefallenen nebst weiteren 70.000 Mann als Verwundete.
Diese Zahlen sind allerdings vorläufig und werden höchstwahrscheinlich nach oben korrigiert werden müssen. Warum? Die allgemeine Erfahrung aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gibt uns ein “klassisches” Verhältnis von Gefallenen und Verwundeten in der folgenden Größenordnung: etwa eins zu drei bis eins zu fünf. Auf solcher Grundlage können wir davon ausgehen, dass die Zahl der in Artjomowsk verwundeten ukrainischen Soldaten nicht bei 70.000, sondern eher zwischen 150.000 und 250.000 liegen müsste. Wahrscheinlich ist die Gesamtzahl der Opfer aber noch höher.
Was gibt sonst noch Anlass zu einer solchen Annahme?
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Erstens: Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan haben die US-Amerikaner errechnet, dass 8 bis 10 Prozent der Verwundungen mit Amputationen von Gliedmaßen enden. Mit anderen Worten: Selbst wenn die Mindestzahl der Verwundeten 70.000 beträgt, werden etwa 7.000 Soldaten wohl als Invaliden niemals wieder in den aktiven Dienst mit Waffe in der Hand zurückkehren können – wohlgemerkt 7.000 nur aus diesem einen Grund.
Es sei darauf hingewiesen, dass die Hauptursache für die schweren Verwundungen der US-Soldaten in den genannten modernen Kriegen Landminen und improvisierte Sprengsätze aller Art waren; Artillerie hingegen hatten die islamistischen Kämpfer praktisch keine.
Im Gegensatz dazu wurde in Artjomowsk aber neun Monate lang ein Artilleriekrieg geführt – und bei dieser Art von Kampfhandlungen entfallen bekanntermaßen und statistisch gesehen 70 bis 80 Prozent aller Verluste auf die Einwirkung von Raketen- und Rohrartillerie. Die Kombination aus der flächendeckenden Ausstattung der ukrainischen Truppen mit persönlicher Schutzausrüstung (Helme, kugelsichere Schutzwesten) und der Konzentration des Artilleriebeschusses dürfte zu einem Anstieg des Anteils gerade der Schwerverwundeten gegenüber der Zahl von Toten geführt haben – und die Mindestzahl der Gefallenen auf der ukrainischen Seite in Artjomowsk ist ja bekannt.
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Zweitens: Ab einem bestimmten Zeitpunkt begannen die ukrainischen Streitkräfte in Artjomowsk unter einem Versagen des medizinischen Evakuierungssystems zu leiden: Lange Wartezeiten und verspätete Evakuierungen erhöhten das Risiko von Infektionen und Komplikationen und führten im schlimmsten Fall vor Ort zum Tod durch Verwundung. Aus der Erfahrung der USA im Vietnamkrieg wissen wir, dass der Anteil solcher späterer Todesfälle der zunächst “nur” Verwundeten im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl bei 12 Prozent liegt – auch diese zunächst zwar “nur” verwundeten Männer hat Kiew de facto ebenfalls unwiederbringlich verloren.
Drittens: In den aktuellen Statistiken sind die permanenten Ausfälle im Zusammenhang mit schweren Gehirnerschütterungen durch Einwirkung explosiver Geschosse, durch neuropsychiatrische Störungen oder schwere Infektionskrankheiten noch nicht enthalten. Hier aber sei daran erinnert, dass unter den ukrainischen Soldaten in Artjomowsk Fälle von Tuberkulose verzeichnet wurden – und auf solche Kleinigkeiten wie COVID-19 hat wahrscheinlich erst recht niemand geachtet.
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Formal wurden diese Soldaten in die Listen der Evakuierten und Überlebenden aufgenommen, aber wenn sie überhaupt jemals wieder an die Front zurückkehren können, so jedenfalls wohl kaum sehr bald.
Außerdem wurden bereits bei der ukrainischen Mobilmachung auch viele Menschen mit chronischen Krankheiten eingezogen.
Alle diese Faktoren zusammen könnten eine verzögerte Wirkung zeigen, die letztendlich aber die Zahl der permanenten Ausfälle weiter erhöhen wird.
Ferner können wir eine ungewisse Anzahl sogenannter “nicht erfasster” Toter nicht ausschließen – also Soldaten, deren Tod von der Kiewer Militärführung selbst verheimlicht wurde. Zu dieser Zahl kommt schließlich eine bislang noch unbekannte Zahl von Gefangenen.
Und unterm Strich?
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Selbst wenn wir die bekannten Daten heranziehen und alles nur nach geschätzten Mindestwerten ausrechnen, stellt sich heraus, dass die ukrainischen bewaffneten Formationen allein im “Fleischwolf” von Artjomowsk ungefähr die volle Personalstärke der ukrainischen Bodentruppen aus der Vorkriegszeit permanent verloren haben – nämlich 125.000 Mann an Gefallenen samt anderen permanent Ausgefallenen. Und zählt man erst nach dem “klassischen” Verhältnis, so hätte Kiew gar seine gesamten Streitkräfte von vor dem Krieg verloren.
Und dabei handelte es sich nicht nur um “zweitklassige” Formationen, sondern auch um den Kaderstamm an Militärs, also um erfahrene Einheiten, und in einigen Fällen auch um Eliteeinheiten (entgegen der Absicht Kiews, seine besten Truppen eigentlich schonen zu wollen. Anm. d. Red.).
Wie es auch immer jetzt um Saluschnys Gesundheit steht: Er sollte sich besser auf die Konsequenzen und die Übernahme der persönlichen Verantwortung für seine Befehle vorbereiten.
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Eine für Kiew noch unangenehmere Folge dieser verlorenen Schlacht ist jedoch die Diskreditierung der gesamten militärischen und politischen Führung der Ukraine. Schon bald wird jedwedes Gerede über die angeblich erfolgreiche Strategie und die Aussichten der Operationen des ukrainischen Militärs auf berechtigte Zweifel und unvermeidlich vorhersehbare Fragen stoßen. Denn ist es überhaupt möglich, den Plänen von solchen Leuten zu vertrauen, die festen Schrittes in die Falle des Feindes marschiert sind und Zehntausende in den schier bodenlosen Abgrund gestürzt haben – ohne auch nur irgendetwas erreicht zu haben?
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