Meinung Der Westen ist Opfer des eigenen Denkens
Das bedeutet, dass die Bezeichnung “kommunistisch” nicht unbedingt ein Schreckgespenst sein muss, wenn sie mit einer Politik in Verbindung gebracht werden kann, die für die Bürger nachvollziehbar ist. Mit dem allgemeinen Begriff Sozialismus verbinden aber die meisten im Westen jene einseitigen Darstellungen über die Wirklichkeit in der Sowjetunion und der DDR, mit denen die westlichen Meinungsmacher die Wohnstuben ihres Publikums geflutet hatten.
Wenn er auch in der DDR und Sowjetunion vermutlich ganz anders wahrgenommen wurde als seine Darstellung im Westen, so wollen aber auch die meisten diesen Sozialismus nicht mehr haben, die ihn hautnah erlebten. Diese seine frühe Form hat sich überlebt. Er beruhte weitgehend auf einem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungsstand, der in den meisten Nachfolgestaaten heute überwunden ist.
Die Kommunisten im Westen dagegen können über Sozialismus nur die allgemeinen Aussagen vor allem der Klassiker der Arbeiterbewegung vortragen. Darin ist aber wenig Konkretes, weil sich diese zum Thema Sozialismus wenig geäußert hatten. Wie sollten sie auch, haben sie doch selbst nie in solchen Gesellschaften gelebt und waren nicht mit deren Problemen konfrontiert.
Aber all diese Fragen sind müßig, weil der Sozialismus im Westen überhaupt nicht auf der Tagesordnung steht. Das heißt aber nicht, dass es so bleiben wird. Die Welt ist im Wandel, und davon bleiben auch die westlichen Gesellschaften nicht verschont. Wie Bertold Brecht in seinem Lied von der Moldau schon sagte: “Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine”.
Diesen Entwicklungen kann man aber mit Klassenkampfparolen, die aus vergangenen Zeiten stammen, nicht gerecht werden. Sie bieten keine Antworten auf die heutigen Fragen. Aber darum geht es: Die Fragen zu erkennen, die heutzutage in den Menschen arbeiten, und Antworten vorzutragen, die nicht nur Erklärungen, sondern auch Handlungsmöglichkeiten anbieten. Allein den Zustand der Gesellschaft zu erkennen, ohne aber dadurch handlungsfähig zu werden, führt in Verzweiflung und Mutlosigkeit.
Klassenkampf heute
Bedeutet das, die Hände in den Schoß zu legen und auf bessere Zeiten zu warten? Ganz und gar nicht. Es bedeutet in erster Linie, die derzeitigen Bedingungen zu überdenken und deren Veränderungen im Vergleich mit früheren Zeiten bewusst zu machen. Es bedeutet, Vorgehensweisen und erreichbare Schritte vorzuschlagen, die dem Ziel einen Schritt näherkommen. Was aber ist das Ziel? Wohin soll all das führen, in welche Richtung bewegt sich die Entwicklung der Menschheit?
Unter schweren und verlustreichen Kämpfen, die oft auch in Niederlagen und Entkräftung führten, hat sie sich immer wieder neue Gesellschaftsformen geschaffen, die ihr Vorankommen gefördert haben: aus der Armut hin zur Sicherung der Lebensgrundlagen und Wohlstand sogar, aus Unterdrückung und Sklaverei hin zu mehr Freiheit und der Entfaltung der menschlichen Genialität, aus der Verzweiflung hin zu einem Ausblick in eine Zukunft der Brüderlichkeit und Solidarität. All diese Entwicklungsschritte waren verbunden mit neuen gesellschaftlichen Ordnungen, die der Verwirklichung dieser Bedürfnisse mehr Raum boten.
Die Überwindung des Kapitalismus drängt sich immer mehr auf, weil er dem Vorankommen der Menschheit immer häufiger im Wege steht. Wie das erfolgen und wo das hinführen soll, ist ein Klärungsprozess. Dafür aber ist das Festhalten an Vorstellungen von Klassenkampf ungeeignet, die sich in Denken und Auftreten auf die Zeit zwischen den Weltkriegen beziehen.
Meinung Kopflos in Europa
Diese Zeit war anders und so auch ihre Herausforderungen. Der Kampf zwischen den Klassen war das wesentliche Merkmal des damaligen Klassenkampfes. Viele Verfechter des Sozialismus haben bei diesem Begriff besonders den Kampf in den Vordergrund gestellt und weniger Augenmerk gelegt auf die Klasse, die Förderung ihres Bewusstseins. Das äußert sich in kämpferischem Auftreten und wortradikaler Sprache, was viele Menschen nicht verstehen und sogar abschreckt.
Klassenkampf ist das Mittel zur Durchsetzung der Interessen der überwiegenden Mehrheit. Seine Bedingungen aber verändern sich ständig im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen. Das bedeutet heute weniger Kampf als vielmehr Bewusstseinsbildung. Versuchen zu verstehen, was sich in der Gesellschaft entwickelt und was dabei unser Interesse ist als die einfachen Menschen mit wenig Macht, aber viel schöpferischer Kraft.
Wir sehen zwar nicht mehr so aus wie die Proletarier früherer Zeiten und sehen uns auch selbst nicht mehr so, sind aber immer noch genauso wirtschaftlich abhängig wie diese. Eine kleine Gruppe mit riesigem Kapitalbesitz entscheidet über das Wohl und Wehe der großen Mehrheit. Daran hat sich bis heute nichts geändert, aber das gilt es zu ändern.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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