Vor vielen Jahren hatte ich mit der Lektüre von Leo Tolstois Epos “Krieg und Frieden” begonnen. Vielleicht war ich damals zu jung, vielleicht erschien mir dieser voluminöse Roman, der in der Zeit der Napoleonischen Kriege spielt, antiquiert. Einer meiner Neujahrsvorsätze für 2023 lautete, diesen Roman endlich aufmerksam zu lesen. Und indem ich mir gemeinsam mit meiner geduldigen Russischlehrerin das Original nun Absatz für Absatz mit neuen Vokabeln erarbeite, bin ich von der Aktualität der Dialoge bereits auf den ersten Seiten fasziniert.
Es geht um Europa, um Verrat – übrigens der Österreicher – um tiefsitzenden Argwohn und die Einsamkeit der Mächtigen. In manchen Passagen des Romans wähne ich mich nicht im Jahr 1805, sondern vielmehr in unserer Epoche. Das Wort “mir” bedeutet in der russischen Sprache sowohl “Friede” wie im Titel des Buches als auch “Welt”. Wissenschaftliche Abhandlungen wurden verfasst, worin denn die eigentliche Stoßrichtung des Schriftstellers bestand. Tolstoi arbeitete Jahrzehnte an diesem Opus, in dem er ein Bild vom Leid auf dem Schlachtfeld, aber auch der vielen zeitlosen Charaktere und damit ein gleichsam universales Sittenbild zeichnet. Manche reden nur über den Krieg und erteilen moralische Lektionen, wie auf einem Ball in St. Petersburg, doch kennen den Krieg nicht. Auch das erinnert an Zeitgenossen.
Nehmen wir an, dass Tolstoi den Titel bewusst so gewählt hat, um den Krieg als eine Konstante der Menschheitsgeschichte, also unserer Welt, darzustellen. Die Gesellschaft seiner Zeit lebte mit dem Krieg. Und so taten es die nachfolgenden Generationen. Das “kurze blutige 20. Jahrhundert”, wie es der Soziologe Eric Hobsbawm nannte und damit die Ära von 1914 bis 1989 meinte, war von Kriegen geprägt. Den beiden großen totalen Weltkriegen gingen “relativ kleine regionale” Kriege voraus. Vor 1914 waren dies die zahlreichen Kriege auf dem Balkan, aber auch Konflikte im Pazifik. Dem Zweiten Weltkrieg, der offiziell am 1. September 1939 begann und auf den europäischen Schlachtfeldern im Mai 1945 mit der Kapitulation Deutschlands endete, ging der Spanische Bürgerkrieg voraus.