Terror in der Ukraine: Weitere Journalisten und Intellektuelle verschwinden spurlos
Es war zu diesem Zeitpunkt, als die Menschen aus den Fenstern zu springen begannen, für die das wohl eine bessere Alternative zu sein schien, als bei lebendigem Leibe zu verbrennen oder zu ersticken.
Aber für einige dieser Unglücklichen stellte sich heraus, dass ein Sprung aus dem Fenster nicht das kleinere Übel war. Diejenigen, die sprangen, wurden schwer verletzt, in vielen Fällen sogar tödlich. Aber ein Überleben des gefährlichen Sprungs bedeutete nicht das Ende des Leidens.
Eine Aufnahme der zahlreichen Kameras, die die Ereignisse filmten, zeigen einen Anti-Maidan-Aktivisten, der auf eine Person zurennt, die gerade aus dem Fenster gesprungen war – zwar verletzt durch den Sturz, aber sie lebte und bewegte sich noch – nur um das Opfer mit einem Schlagstock zu verprügeln. Später verbrachte der lokale Journalist Sergei Dibrow einige Zeit damit, Filmmaterial und Bilder des Vorfalls zu studieren und er kam zum Schluss, dass das bemitleidenswerte Opfer letztendlich medizinische Hilfe erhielt und überlebte.
Ab diesem Punkt kamen einige Leute im Mob zur Besinnung und begannen denen zu helfen, die in dem brennenden Gebäude gefangen waren. Einige warfen jenen in den oberen Stockwerken ein Seil zu. Andere zerrten ein nahe stehendes Baugerüst zum Gebäude, um den Eingeschlossenen bei der Flucht zu helfen. Diese Taten trugen dazu bei, dass eine ganze Reihe von Menschen das Gebäude lebend verlassen konnten, obwohl nicht wenige davon, kaum in Sicherheit, mit Knüppeln zusammengeschlagen wurden.
Der letzte Molotowcocktail wurde um 20:08 Uhr in das Gebäude geworfen. Mittlerweile traf auch Polizeiverstärkung ein und drängte die aggressivsten Angreifer zurück. Die Feuerwehr traf um 20:08 Uhr ein – obwohl sie nur 400 Meter vom Gewerkschaftshaus entfernt stationiert war, dauerte es 30 Minuten, bis sie am Tatort eintraf – und begann, die letzten Überlebenden zu bergen.
Wie sich herausstellte, hatten ziemlich viele Menschen das Feuer überlebt. Das Chaos legte sich und Feuerwehr und Polizei stellten die Ordnung wieder her. Einige Menschen konnten vom Dach gerettet werden, während andere in Räumen gefunden wurden, die nicht vom Feuer oder von Rauch bedroht waren. Die letzten Überlebenden, die sich auf dem Dachboden versteckt hatten, verließen das Gebäude in den frühen Morgenstunden des 3. Mai.
Eine Frau namens Jelena gehörte zu jenen aus dem Kulikowo-Lager, die vor dem Angriff beim Aufbau der Erste-Hilfe-Station geholfen hatten. Später erzählte sie Journalisten, dass sie von den Leuten draußen gemobbt worden sei, nachdem sie dem Feuer entkommen war. Sie wurde beschimpft und verprügelt, während die Polizei tatenlos zusah.
Während des Brandes in dem Gebäude zeigten die “Gewinner” ein widersprüchliches Verhalten. Einige unternahmen ernsthafte Versuche, Menschen vor dem Feuer zu retten, das sie gerade entfacht hatten und riskierten dafür sogar ihr Leben. Während andere die Gelegenheit nutzten, um die Überlebenden anzugreifen und zu demütigen.
Insgesamt starben während der Ereignisse am 2. Mai 2014 nach offiziellen Angaben 48 Menschen: Zwei Maidan-Aktivisten und 46 Anti-Maidan-Aktivisten. Acht Menschen sprangen aus dem Gebäude in den Tod, andere erstickten oder starben an Verbrennungen. Alle waren Bürger der Ukraine. Insgesamt 247 Personen benötigten medizinische Hilfe, 27 von ihnen wiesen Schusswunden auf.
Aleksei Albu, Lokalpolitiker und einer der Anführer der Kulikowo-Gruppe, gehörte zu jenen, die in dem Gebäude in Deckung gegangen waren und überlebten. Später schloss er sich der Brigade “Prisrak” (Gespenst) des legendären und 2015 ermordeten Kommandeurs Aleksei Mosgowoi in der Volksrepublik Lugansk im Donbass an. Ein anderer Anführer, der örtliche Abgeordnete Wjatscheslaw Markin, erlag am Morgen des 3. Mai den Verletzungen, die er sich zugezogen hatte, nachdem er aus dem Gebäude gesprungen war, um dem Feuer zu entkommen.
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Nachdem nur noch Asche übrigblieb
In den folgenden Jahren wurde kein einziger Verantwortlicher für die Morde in Odessa in irgendeiner Weise bestraft. Viele der Mörder handelten offen, trugen keine Masken oder Verkleidungen und äußerten sich sehr offen zu ihren Absichten und Taten. Bloß eine Handvoll wurde strafrechtlich verfolgt, aber letztlich wurde niemand vor Gericht gestellt, um sich für die begangenen Verbrechen zu verantworten.
Jede Untersuchung, die angesetzt werden konnte, wurde von den sogenannten “Patrioten” sabotiert. Eine Reihe von Richtern sah sich gezwungen, die Fälle abzugeben, nachdem sie Drohungen vonseiten Militanter erhalten hatten.
Währenddessen identifizierten hochrangige ukrainische Politiker umgehend die “Schuldigen”. Der damals amtierende Präsident der Ukraine, Alexander Turtschinow, sagte, dass die Unruhen in Odessa “aus Russland koordiniert wurden”. Sergei Paschinskij, der amtierende Leiter der damaligen Präsidialverwaltung, sagte, die Ereignisse seien “eine Provokation des FSB” gewesen, “um die Aufmerksamkeit von der ‘Anti-Terror-Operation’ im Donbass abzulenken.” Das Außenministerium der Ukraine erklärte, dass “die Tragödie eine geplante und gut finanzierte Operation der russischen Sonderdienste war.”
Von Anfang an schienen die Behörden in Odessa die Ermittlungen gezielt zu behindern. Am Morgen des 3. Mai wurde das Gebiet um die Gretscheskaja-Straße von den Stadtwerken geräumt, wodurch alle physischen Beweise beseitigt wurden. Das Gewerkschaftshaus blieb im folgenden Monat für die Öffentlichkeit zugänglich. Die Bürger konnten im Internet Live-Streams aus den schwelenden Ruinen sehen, wobei ein Kameramann die aufgefundenen Leichen eines jungen Paares als “Romeo und Julia” bezeichnete.
Es wurde keinerlei Versuche unternommen, den Tatort abzusperren und Beweise zu sichern. Die Waffen, mit denen Menschen getötet wurden, blieben spurlos verschwunden. Und dies sind nur einige Beispiele für die abschätzige und fahrlässige Haltung der Behörden gegenüber dem Fall. Im September 2015 räumte der UN-Sonderberichterstatter Christof Heyns ein, dass der Großteil der Beweise im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 2. Mai unmittelbar nach dem Verbrechen vernichtet wurde.
Blumen und das Wort “Völkermord” vor dem abgebrannten Gewerkschaftshaus in Odessa, am Mittwoch, 7. Mai 2014. © Zacharie Scheurer / NurPhoto / Corbis via Getty Images
Der Euromaidan-Aktivist Sergei Chodijak, der mit einem Jagdgewehr auf Menschen geschossen hatte, wurde aus der Haft entlassen. Und der Richter zog sich unter dem Druck einer Gruppe von Euromaidan-Aktivisten, angeführt von Igor Mosytschuk, einem Abgeordneten der nationalistischen Radikalen Partei, aus dem Fall zurück. Wsewolod Gontscharewskij, der Kulikovo-Aktivisten, die aus den Fenstern des brennenden Gebäudes gesprungen waren, mit einem Knüppel erledigte, wurde wegen “Mangels an Beweisen” freigelassen.
Dolschenkow und eine Reihe anderer Anti-Maidan-Aktivisten blieben hingegen in Haft. 2017 sprach das Gericht Dolschenkow nach vielen Verzögerungen im Zusammenhang mit dem Fall frei. Aber er wurde umgehend wieder festgenommen, unter der erfundenen Anklage, bei einer politischen Kundgebung, die einen Monat vor der Tragödie stattgefunden hatte, illegale Parolen skandiert zu haben. Im Dezember 2017 wurden die letzten pro-russischen Aktivisten im Rahmen eines Austauschs von Häftlingen und Gefangenen aus dem Donbass-Konflikt aus der Haft entlassen.
Meinung
Krieg in der Ukraine – und alles ist in Aufruhr
Die ukrainische Gesellschaft hat auf die Ereignisse in Odessa auf sehr eigenartige Weise reagiert. Die Mehrheit der Bevölkerung sympathisierte mit den Opfern: Jedes Jahr, am 2. Mai, werden Blumen vor dem Gewerkschaftshaus niedergelegt. Die Öffentlichkeit und die Medien waren jedoch von den Nationalisten dominiert. Einige Monate nach den Ereignissen waren die Sozialen Medien überflutet mit “Witzen” über das “Odessa-Barbecue”, das “Verbrennen von Watniks” (eine abwertende Bezeichnung für Sowjets, bzw. Pro-Russen) sowie Slogans, die auf unheimliche Weise an die von den Nazis verwendeten Slogans über die Juden erinnern. Das ukrainische Internet wurde mit Bildern von verbrannten Leichen überschwemmt, begleitet von höhnischen Kommentaren. In der Tat fand in den ukrainischen Sozialen Medien genau das statt, was gemeinhin der russischen Propaganda zugeschrieben wird.
Viele der Menschen, die als Täter an den Ereignissen in Odessa teilnahmen, fanden sich bald darauf im Donbass wieder und kämpften in den “Freiwilligen-Bataillonen” der ukrainischen Armee.
“Alles, was es braucht, ist, fünfzig ‘Watniks’ in jeder Stadt zu töten, und dann haben wir Frieden und der Krieg ist beendet”, bemerkte Maksim Masur, ein Mitglied des Aidar-Bataillons – eine Aussage, die von vielen der Täter in Odessa eifrig unterstützt wurde.
Die Bilder verbrannter Leichen riefen Entsetzen, aber auch Wut hervor. Der Mai 2014 war ein Wendepunkt: Freiwillige aus Russland strömten massenhaft in die abtrünnigen Republiken Lugansk und Donezk, einige Männer kamen sogar aus Westeuropa, um auf dieser Seite zu kämpfen. Slogans über den Autonomiestatus und die Notwendigkeit, Gespräche mit Kiew zu führen, wichen einer unerbittlichen Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende standzuhalten und zu kämpfen. Nur wenige Tage nach dem 2. Mai schrieb ein Donbass-Rebell auf einen zerstörten und ausgebrannten ukrainischen Schützenpanzer:
“Das ist für Odessa, ihr Bastarde.”
Die Stimmen jener, die von den Ereignissen entsetzt waren und verstanden, was tatsächlich passiert war, wurden einfach nicht gehört. Dabei waren sie hörenswert. Zwei Jahre nach der Tragödie schrieb Artjom Suschtschewski aus Makejewka im Donbass:
“Ich kann noch so oft wiederholen, dass nicht alle verrückt geworden sind, und dass die meisten Ukrainer immer noch die guten und vernünftigen Menschen sind, die sie immer waren. Ich bin davon überzeugt, dass das stimmt und ich widerspreche mir nicht, wenn ich das sage. Doch es gibt ein ‘Aber’: Diese guten und vernünftigen Menschen leben seit zwei Jahren im Frieden mit den Ereignissen, die sich am 2. Mai in Odessa zutrugen. Und sie leben auch irgendwie im Frieden mit dem Beschuss von Donezk. Und sie ertragen diesen schändlichen Krieg, indem sie sich mit dem Märchen über eine eine russische Invasion trösten. Aber ich kann nicht mit jenen leben, die damit leben können. Es ist mir egal, wie ich lebe – solange es nicht bei euch ist.”
Alexander Topilow, ein Musiker aus Odessa und Unterstützer des Euromaidan, schrieb wenige Tage nach den tragischen Ereignissen:
“Da gab es Jungen, die 1994 geboren wurden. Da gab es junge Mädchen, Universitätsprofessoren, Mechaniker. Ich weiß nicht. Nicht alle waren schnell genug, um zu springen. Nicht alle überlebten den Aufprall. Das war kein Sieg, verdammt noch mal! Jubelt uns nicht zu. Ich habe einige begeisterte Kommentare gelesen. Wer zum Teufel will so einen Sieg? Und wer kann sowas einen Sieg nennen? Das war ein verdammtes Fiasko. Das ist Bürgerkrieg. Einwohner von Odessa gehen sich gegenseitig an die Kehle. Wer ist hier der Gewinner? Ich brauche solche Siege nicht, verdammt noch mal. Manche Menschen sind wie Tiere und manche Bestien sind menschlich, das ist es, wovon ich spreche. Die Grenze zwischen ‘uns’ und ‘denen’. Ich habe meine am 2. Mai verloren. Ich weiß nicht, wo ich sie zeichnen soll. Ich sehe Menschen. Und ich sehe Tiere. Tiere auf meiner Seite, Menschen gegen mich. Also, was mache ich als nächstes? Verdammt, wenn ich das wüsste, Junge – wie man auf der anderen Seite sagt. Und es gibt dort nicht weniger echte Menschen als Tiere hier.”
Doch dieser verzweifelte Aufschrei stieß auf taube Ohren. Am selben Tag, an dem das Gewerkschaftsgebäude brannte, kam es in Slawjansk, im Donbass, zu heftigen Kämpfen. Die ukrainische Armee versuchte in die Stadt einzudringen. Bald wurden die mit einem kunterbunten Sortiment aus Jagdgewehren, von Polizisten gestohlenen Handfeuerwaffen und Molotowcocktails bewaffneten Milizen durch Bataillone und Brigaden ersetzt, die mit Artillerie und Panzern ausgerüstet waren. Die Ostukraine erbebte von nun an unter dem Lärm der Haubitzen und dem Donnern der Panzer.
Jewgeni Norin
ist ein russischer Historiker mit Fokus auf Russlands Kriege und internationale Politik.
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