Quelle: Sputnik © RIA Nowosti Symbolbild
Von Irina Alksnis
In Europa geht es derzeit mysteriös zu.
Zwei Tage sind vergangen, seit der britische Botschafter (wie auch sein französischer Amtskollege) im russischen Außenministerium erscheinen musste, wo er eine – für diplomatische Verhältnisse – heftige Tracht Prügel bezogen hat.
Nach dem Treffen erklärte unser Außenministerium in einer offiziellen Erklärung, dass der britische Gesandte “gewarnt wurde, dass die Antwort auf ukrainische Angriffe mit britischen Waffen auf russischem Gebiet alle britischen Militäreinrichtungen und Ausrüstungen auf ukrainischem Gebiet und darüber hinaus sein könnten.”
Auslöser für diese Demarche Moskaus war die jüngste Erklärung von Außenminister David Cameron, in der er den Einsatz von an Kiew gelieferten Waffen – insbesondere Langstrecken-Marschflugkörpern – für Angriffe auf russisches Hoheitsgebiet erlaubte. Es handelt sich dabei um die Erklärung, die Reuters zuerst am 2. Mai veröffentlichte, dann zurückzog, “um Details zu überprüfen”, und dann ohne große Änderungen wieder veröffentlichte.
Russischer Botschafter: Manöver mit Atomwaffen sind Reaktion auf Aggressivität des Westens
Der Grund für dieses Hin und Her liegt auf der Hand: Camerons Worte machen Großbritannien tatsächlich zu einer Konfliktpartei, und so sieht es auch Moskau. Aber offenbar haben sich die Falken in den Londoner Kabinetten gegenüber ihren vorsichtigeren Kollegen durchgesetzt, und die Erklärung des Ministers blieb in der Welt.
Seit mehr als zwei Jahren bewegt sich die westliche Politik im Ukraine-Konflikt auf dünnem Eis: Einerseits wird Kiew in vielfältiger Weise kräftig unterstützt, andererseits hält man sich offiziell aus dem Konflikt heraus, um Russland keinen Anlass zu Vergeltungsmaßnahmen zu geben. In den letzten Monaten hat sich die Situation zu ändern begonnen: Die Aussichtslosigkeit der Lage für die ukrainischen Streitkräfte an der Front drängt den Westen – in erster Linie natürlich Europa – zunehmend dazu, sich direkt in den Konflikt einzumischen. Die immer aggressivere Rhetorik der europäischen Führer spiegelt genau diesen Trendwechsel wider.
Das Raffinierte daran ist, dass in diesem Fall ein großer Abstand zwischen Worten und Taten besteht. Es ist eine Sache, sich wie Macron aufzublasen und zu versprechen, offiziell französische Truppen in die Ukraine zu entsenden, und eine ganz andere, dies auch tatsächlich zu tun. Bislang beschränkt sich alles auf Gerüchte über die Beteiligung französischer Söldner an den Kämpfen sowie Indizien, die darauf hindeuten. Macron selbst wählt seine Worte nach anfänglichem Eifer immer vorsichtiger. So versicherte er zum Beispiel zeitgleich mit der Einbestellung des französischen Botschafters in das Außenministerium in Moskau, dass sich sein Land nicht im Krieg mit Russland oder dem russischen Volk befinde.
Für die Briten ist die Situation jedoch komplizierter, da Cameron Kiew die Zustimmung zu Angriffen auf russisches Territorium mit offiziell von London übergebenen Waffen erteilt hat. Die üblichen Ausreden, dass die Söldner auf eigenes Risiko handeln und nichts mit dem Staat zu tun haben, greifen hier nicht. Alles in allem ist dies in der Tat ein sehr großer Schritt Großbritanniens hin zu einem offenen Krieg mit Russland.
Aber offenbar wurde ihnen das erst bewusst, als der Botschafter ins russische Außenministerium einbestellt wurde, und die darauf folgende Reaktion Moskaus hat die Briten und in der Folge das gesamte europäische Establishment schockiert.
Ex-Pentagon-Berater: “Emmanuel Macron ist eindeutig zu weit gegangen”
Seit vielen Monaten – seit die öffentliche Tendenz des Westens, die Unterstützung für Kiew zu reduzieren, offensichtlich wurde – erklären Beamte des Westens in Windeseile, dass der Prozess fortgesetzt werden muss, weil Russland in der Ukraine nicht aufhören und unweigerlich weitergehen wird, sodass der größte Teil Europas von Moskaus militärischer Aggression bedroht sei.
Und nun hat der Westen endlich ein stichhaltiges Argument zur Unterstützung seiner Position erhalten: Moskau hat offen, direkt und ganz offiziell erklärt, dass es britische Militäreinrichtungen angreifen wird. Und ja, es wird sie nicht nur in der Ukraine, sondern auch jenseits ihrer Grenzen treffen. Und diese Erklärung erfolgte fast zeitgleich mit der Ankündigung Russlands, Übungen mit nicht-strategischen Atomwaffen durchzuführen.
Man könnte meinen, dass dies der Beweis für die russische Bedrohung ist, der an allen Ecken und Enden herausposaunt werden kann. Doch stattdessen herrscht Schweigen. Während die Medien weltweit noch über die Atomübungen berichteten, wirkte die Erklärung des russischen Außenministeriums, in der eine militärische Antwort auf Großbritannien auch außerhalb der Ukraine versprochen wurde, sowohl für Beamte als auch für die Medien ernüchternd. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels ist dieses Thema in der westlichen Informations- und Politiklandschaft praktisch nicht existent. Die Russlandhasser, die Moskau vor kurzem noch “Überraschungen” wie massive Raketen- und Drohnenangriffe und die Zerstörung der Krimbrücke für die Maifeiertage versprochen hatten, sind ebenfalls verstummt und ignorieren das Thema geflissentlich.
Wir sind es gewohnt, dass westliche Staatsmänner, Politiker und Journalisten keine Probleme mit Rhetorik haben. Zu jedem Zeitpunkt und zu jedem Thema haben sie ideologische und sprachliche Stempel parat, die zur aktuellen Agenda passen. Das Schweigen Londons und aller anderen westlichen Hauptstädte seit mehr als einem Tag zu einem so wichtigen Thema wie der direkten militärischen Drohung Russlands in Richtung Großbritannien spricht Bände über den Grad der Verdummung und Verwirrung, der dort derzeit herrscht.
Die Europäer werden das gesamte Weltbild in ihren Köpfen neu formatieren und erkennen müssen, dass der imaginäre russische Bär, den sie in den letzten Jahren in ihrer Fantasie erfolgreich besiegt haben, in der Realität bissiger ist, als ihnen lieb ist. Mit dem realen “russischen Bären” will es niemand von ihnen aufnehmen. Zumal das heutige Datum uns daran erinnert, wie es beim letzten Mal endete.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Originalartikel ist am 8. Mai 2024 auf ria.ru erschienen.
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