Meinung Montjan: Den Konflikt zu lösen, heißt begreifen, dass alles lange vor 2022 begann
Es ist unmöglich, diese Bilder mit Gleichgültigkeit zu betrachten. Es ist unmöglich, Sympathie für die Täter zu empfinden, außer man teilt ihre Überzeugung. Es ist unmöglich, Odessa gesehen zu haben und die Geschichte von der demokratischen Ukraine zu glauben.
Also wer war es, der beschloss, den Zuschauern die Rückkehr faschistischer Pogrome nach Europa vorzuenthalten? Waren es die Redaktionen? War es die Bundesregierung, war es Angela Merkel? Hatten sie vorher selbst gesehen, was sie verbergen wollten, oder nicht einmal das? Und sind sich die Macher dieses Schweigens bewusst, dass jede Granate, die in der Ukraine fällt, ganz gleich auf wen, auch ihre Verantwortung ist?
Kann man ihnen, darf man ihnen zugutehalten, dass sie nicht begriffen, was sie da verbargen? Wenn man ihrer Rhetorik lauscht, wissen sie genau, was “Nazi” ist, sowohl in den Sendeanstalten als auch in der Politik. Eine johlende Meute, die sich am Sterben anderer ergötzt, was könnte mehr Nazi sein? Wie biegt man sich das zurecht, um es unauffällig verschwinden zu lassen? Oder andersherum – wenn es damals genügte, den Opfern das Etikett „Pro-Russen“ anzuheften, damit der Zivilisationsbruch keiner mehr ist und das Massaker nur noch ein Brand, was besagt das über die Entscheider? Ob sie den Wahn nun teilten, der seit damals die Ukraine in “Herrenrasse” und “Untermenschen” trennt oder ihn nur für nützlich hielten – es muss ihnen bewusst gewesen sein, dass ein Schweigen zu Odessa auch die Billigung künftiger Verbrechen, wie den Beschuss der Donezker Zivilbevölkerung beinhaltete.
Natürlich, es könnte reiner Opportunismus gewesen sein. Da hat man so freundlich vom Maidan berichtet, wochenlang, allabendlich, das kann man doch nicht mit so einem Bericht einfach über den Haufen werfen. Man hat sich schon geeinigt, die Besetzer in Donezk und Lugansk zu russischen Agenten zu erklären; wenn solche Leute auf einmal Opfer sind und nicht Täter, bringt das, das Publikum nur zu sehr durcheinander.
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Man kann es sich vorstellen, man kann sie regelrecht hören, diese Argumente kleiner Münze, wie sie zwischen Ledersesseln in höheren Etagen ausgetauscht werden. Und währenddessen das entsetzliche Feuer immer kleiner wird, bis es einer Schlägerei am Rande eines Campingplatzes ähnelt. Leute raufen sich nun einmal gelegentlich. Wie berichtete damals die Tagesschau? “Bei Auseinandersetzungen zwischen Pro-Europäern und Pro-Russen geriet in Odessa das Gewerkschaftshaus in Brand.”
Das Schweigen wurde aber nicht nur von Politik und Medien aufrechterhalten. Der zweite Mai 1933 war der Tag, an dem in Deutschland die Nazis die Gewerkschaftshäuser stürmten, nachdem noch zum 1. Mai der ADGB mit zu deren Kundgebungen aufgerufen hatte. Zumindest in Deutschland hätte ein solches Ereignis an einem solchen Datum eine Reaktion auslösen müssen; mehr als eine Mahnwache in München gab es aber nicht. Keine Presseerklärung, die auf dieses historische Datum verwies, keine Kundgebungen, keine Informationen an die Mitglieder. War das eine Freundlichkeit gegenüber dem damaligen sozialdemokratischen Außenminister Steinmeier? Der es dann auch nicht für nötig hielt, wenigstens Blumen niederzulegen, als er dort war, wenige Tage nach dem Verbrechen?
Wäre Odessa jedem bekannt, es wäre nie möglich gewesen, Waffen an diese Ukraine zu liefern. Es hätte zumindest eine breite Öffentlichkeit gegeben, die auf eine Durchsetzung der Minsker Vereinbarungen gedrungen hätte, auch wenn Skepsis darüber bestand, ob ohne Veränderungen in Kiew Frieden überhaupt möglich ist. Selbst wenn man berücksichtigt, dass es immer noch Unterstützer der Bandera-Ukraine in den EU-Ländern, vor allem in Deutschland, gegeben hätte – wir hätten einen völlig anderen Weg genommen.
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Und nein, auch solche Überlegungen sind nicht nutzlos. Selbst wenn man im Augenblick vermutet, dass sich an diesem Punkt zwei Wege voneinander trennen, wenn der Moment eine Wucht hat, als risse er den Erdboden selbst in Stücke, ist es doch erst der Rückblick, der bestätigt, wo sich die Pfade schieden, was dann irgendwann einmal ermöglicht, festzuhalten, wer wofür Verantwortung zu tragen hat. Noch sind die Abläufe der damaligen Entscheidungen in Archiven vergraben oder womöglich einzig in der Erinnerung der Beteiligten. Aber so, wie der Tag kommt, an dem all die aufgezeichneten Täter von Odessa zur Rechenschaft gezogen werden, auch die Besucherin der deutschen Außenministerin, so kommt auch jener, an dem aufgeklärt wird, wer damals für das Schweigen im Westen sorgte.
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