Getreideabkommen im Fokus: Erdoğan plant Russland-Besuch
Das Rätsel um das russische Kernland lösen
Von den westlichen Sanktionen gegen Russland haben einige Akteure im Kernland profitiert. Da die zentralasiatischen Volkswirtschaften eng mit Russland verbunden sind, sind die Exporte in die Höhe geschnellt – übrigens genauso stark wie die Importe aus Europa.
Etliche EU-Unternehmen siedelten sich nach ihrem Weggang aus Russland im Kernland an – mit der Folge, dass ausgewählte zentralasiatische Unternehmer russische Vermögenswerte kauften. Parallel dazu zogen aufgrund der russischen Truppenmobilisierung wohl Zehntausende relativ wohlhabender Russen in das Kernland, während zusätzlich viele zentralasiatische Arbeitskräfte neue Arbeitsplätze fanden, insbesondere in Moskau und St. Petersburg.
So stiegen die Überweisungen nach Usbekistan im letzten Jahr auf satte 16,9 Milliarden Dollar an: 85 Prozent davon (etwa 14,5 Milliarden Dollar) kamen von Arbeitern aus Russland. Nach Angaben der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung wird die Wirtschaft im Kernland im Jahr 2023 um 5,2 Prozent und im Jahr 2024 um 5,4 Prozent wachsen.
Dieser wirtschaftliche Aufschwung ist in Samarkand deutlich sichtbar: Die Stadt ist heute eine riesige Bau- und Sanierungsstelle. Überall entstehen tadellose neue, breite Boulevards mit üppigem Grün, Blumen, Springbrunnen und breiten Gehwegen, die allesamt blitzsauber sind. Keine Landstreicher, keine Obdachlosen, keine Drogensüchtigen. Besucher aus den verfallenden westlichen Metropolen sind absolut fassungslos.
In Taschkent baut die usbekische Regierung ein riesiges, atemberaubendes Zentrum für islamische Zivilisation, das sich stark auf paneurasische Geschäfte konzentriert.
Es steht außer Frage, dass die Beziehung zu Russland der wichtigste geopolitische Vektor im gesamten Kernland ist. Russisch ist nach wie vor die Umgangssprache in allen Lebensbereichen.
Beginnen wir mit Kasachstan, das eine riesige, 7500 km lange Grenze mit Russland teilt (dennoch gibt es keine Grenzstreitigkeiten). Zu Zeiten der UdSSR wurden die fünf zentralasiatischen “Stans” eigentlich als “Zentralasien und Kasachstan” bezeichnet, da ein großer Teil Kasachstans im Süden Westsibiriens und nahe an Europa liegt. Kasachstan sieht sich selbst als eurasisches Land schlechthin – kein Wunder, dass Astana seit den Jahren von Nasarbajew die eurasische Integration bevorzugt.
Vergangenes Jahr erklärte Tokajew auf dem Wirtschaftsforum in St. Petersburg dem russischen Präsidenten Wladimir Putin persönlich, dass Astana die Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Lugansk nicht anerkennen werde. Kasachische Diplomaten betonen immer wieder, dass sie es sich nicht leisten können, das Land als Einfallstor für die Umgehung westlicher Sanktionen zu nutzen – obwohl genau das in vielen Fällen im Verborgenen geschieht.
Kirgisistan seinerseits hat die für Oktober letzten Jahres geplanten gemeinsamen Militärübungen der OVKS “Starke Bruderschaft 2022” abgesagt – wobei zu erwähnen ist, dass das Problem in diesem Fall nicht Russland, sondern eine Grenzfrage mit Tadschikistan war.
Putin hat vorgeschlagen, eine Gasunion zwischen Russland, Kasachstan und Usbekistan zu gründen. Bislang ist nichts geschehen, und es wird wohl auch nicht geschehen.
All dies muss als kleiner Rückschlag betrachtet werden. Letztes Jahr besuchte Putin zum ersten Mal seit Langem alle fünf zentralasiatischen “Stans”. Nach dem Vorbild Chinas hielten sie auch zum ersten Mal einen 5+1-Gipfel ab. Russische Diplomaten und Geschäftsleute sind ständig auf den Straßen des Kernlandes unterwegs. Und vergessen wir nicht, dass die Präsidenten aller fünf zentralasiatischen “Stans” selbst an der Parade auf dem Roten Platz in Moskau am Tag des Sieges im vergangenen Mai teilnahmen.
Die russische Diplomatie weiß alles, was man über die große imperiale Besessenheit wissen muss, die zentralasiatischen “Stans” dem russischen Einfluss zu entziehen.
Das geht weit über die offizielle US-Zentralasienstrategie 2019–2025 hinaus – und hat nach der Demütigung der USA in Afghanistan und der bevorstehenden Demütigung der NATO in der Ukraine den Status einer Hysterie erreicht.
An der entscheidenden Energiefront erinnern sich heute nur wenige daran, dass die Turkmenistan-Afghanistan-Pakistan-Indien-Pipeline (TAPI), die dann in TAP umbenannt wurde (Indien zog sich zurück), eine Priorität der amerikanischen (Kursivschrift von mir) Neuen Seidenstraße war, die im Außenministerium ausgeheckt und von der damaligen Außenministerin Hillary Clinton im Jahr 2011 verkauft wurde.
Aus dieser Luftnummer ist nichts Praktisches geworden. Was die Amerikaner kürzlich geschafft haben, war, die Entwicklung eines Konkurrenten, der Iran-Pakistan-Pipeline (IP), zu vereiteln, indem sie Islamabad zwangen, sie zu stornieren, und zwar im Zuge des ganzen Justizskandals, mit dem der ehemalige Premierminister Imran Khan aus dem politischen Leben Pakistans entfernt werden sollte.
Doch die TAPI-IP-Pipelineistan-Saga ist noch lange nicht vorbei. Nachdem Afghanistan von der US-Besatzung befreit ist, sind die russische Gazprom sowie chinesische Unternehmen sehr daran interessiert, sich am Bau der TAPI zu beteiligen: Die Pipeline wäre ein strategischer BRI-Knotenpunkt, der mit dem chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) an der Kreuzung zwischen Zentral- und Südasien verbunden wäre.
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Der “fremde” kollektive Westen
So sehr Russland im gesamten Kernland eine bekannte Währung ist – und dies auch bleiben wird – so unübertroffen ist das chinesische Modell als Beispiel für nachhaltige Entwicklung, das eine Reihe einheimischer zentralasiatischer Lösungen inspirieren kann.
Was hat das Kaiserreich demgegenüber zu bieten? Kurz und bündig: Teile und herrsche, und zwar über seine lokalisierten Terroristen wie ISIS-Khorasan, die zur politischen Destabilisierung der schwächsten zentralasiatischen Knotenpunkte instrumentalisiert werden, zum Beispiel vom Ferghanatal bis zur afghanisch-tadschikischen Grenze.
Die vielfältigen Herausforderungen, mit denen das Kernland konfrontiert ist, wurden auf Tagungen wie der Valdai-Konferenz für Zentralasien eingehend erörtert.
Der Valdai-Club-Experte Rustam Khaydarov hat vielleicht die prägnanteste Einschätzung der Beziehungen zwischen dem Westen und dem Kernland formuliert:
“Der kollektive Westen ist uns sowohl in Bezug auf die Kultur als auch auf die Weltanschauung fremd. Es gibt kein einziges Phänomen oder Ereignis oder Element der modernen Kultur, das als Grundlage für eine Beziehung und Annäherung zwischen den USA und der Europäischen Union auf der einen und Zentralasien auf der anderen Seite dienen könnte. Amerikaner und Europäer haben keine Ahnung von der Kultur und Mentalität oder den Traditionen der Völker Zentralasiens, sodass sie nicht in der Lage waren und sind, mit uns zu interagieren. Zentralasien sieht wirtschaftlichen Wohlstand nicht in Verbindung mit der liberalen Demokratie des Westens, die für die Länder der Region im Grunde ein fremdes Konzept ist.”
In Anbetracht dieses Szenarios und im Kontext eines New Great Game, das von Tag zu Tag glühender wird, ist es nicht verwunderlich, dass einige diplomatische Kreise im Kernland sehr an einer engeren Integration Zentralasiens in BRICS+ interessiert sind. Das ist etwas, das auf dem BRICS-Gipfel in Südafrika in der nächsten Woche sicherlich diskutiert werden wird.
Die strategische Formel lautet: Russland + Zentralasien + Südasien + Afrika + Lateinamerika – ein weiterer Fall der “Globaler Globus” (um Lukaschenko zu zitieren) Integration. Das Ganze könnte damit beginnen, dass Kasachstan als erste Kernlandnation als Mitglied von BRICS+ aufgenommen wird.
Danach ist die ganze Welt eine Bühne für die wiederbelebte Rückkehr des Kernlandes in den Bereichen Transport, Logistik, Energie, Handel, Produktion, Investitionen, Infotechnologie, Kultur und – nicht zuletzt, im Geiste der alten und neuen Seidenstraßen – für den “Austausch von Menschen zu Menschen”.
Aus dem Englischen
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