Analyse Wie Russland sich neu erfinden muss, um dem hybriden Krieg des Westens zu begegnen
Die zweite Aufgabe, die Putin jetzt in Angriff nimmt, ist weitaus weniger trivial, ja, sie ist sogar widersprüchlich. Neun Jahre sind vergangen, seit die jüngste in der langen Reihe der Konfrontationen zwischen Russland und dem Westen in die offene Phase getreten ist. Und fast anderthalb Jahre ist es her, seit sie den Charakter eines ausgewachsenen bewaffneten Konflikts angenommen hat, der kaum noch durch das Feigenblatt eines Status als Stellvertreterkrieg gedeckt ist. Selbst die naivsten, von der Politik weitest denkbar entfernten Menschen haben erkannt, dass für Russland seine Existenz auf dem Spiel steht und es somit wieder einmal um einen existenziellen Konflikt geht. Eben nicht nur um einen günstigen Platz in der geopolitischen Landschaft, sondern um das Überleben des Landes.
Und gerade hier müssen wir einen wichtigen Umstand berücksichtigen: Seit dem letzten derartigen Konflikt, dem Großen Vaterländischen Krieg, ist nicht allzu viel Zeit vergangen, und infolgedessen sind die Algorithmen der nationalen Reaktion, die es der Sowjetunion damals ermöglichten, zu bestehen und zu siegen, unwillkürlich erwacht. Nun verlangen sie danach, im öffentlichen Gedächtnis verkündet zu werden:
“Erhebe dich, gewaltig Land!”
Insgesamt war das vergangene Jahrhundert für Russland eine Zeit der volksweiten Mobilmachung und übermäßigen Anstrengung, um unsere Ziele um jeden Preis zu erreichen.
Das hat auch die heute lebenden Generationen geprägt. Das russische Volk hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass dies der Preis ist, den Russland für seine Errungenschaften und Siege zu zahlen hat.
Allein, das ist eben überhaupt nicht der Fall. Es stimmt schon, dass Russland während eines beträchtlichen Teils seiner Geschichte um sein eigenes Überleben kämpfen musste, da es regelmäßig von allen Seiten existenziell bedroht wurde. Aber dieser Betriebsmodus der nationalen Mobilisierung war eben keineswegs der übliche Mechanismus der staatlichen und politischen Führung. Er war eher die Ausnahme von der Regel.
Ja, Russland führte fast ununterbrochen blutige Kriege um seine Interessen, seine Zukunft, sein Überleben. Aber das hinderte den größten Teil des Landes nicht daran, ein ganz normales Leben zu führen: Kinder großzuziehen und Getreide anzubauen, mit der Welt Handel zu treiben und Expeditionen zu entsenden, Fabriken und Städte zu bauen, große Kunstwerke und das beste Ballett der Welt zu erschaffen, Bodenschätze und neue Gebiete zu erschließen, über die Russland es schließlich ganz bis zum Pazifik schaffte.
Hier stellt sich aber eine logische Frage: Ist es vielleicht möglich, dass das 20. Jahrhundert, als für Russland als der einzige Überlebensweg darin bestand, alle Kräfte des Volkes jenseits aller Grenzen zu überfordern, eher eine beispiellose Fluktuation und absolute Ausnahmeepisode war und dass wir nun zu unserer historisch belegten Existenznorm zurückkehren?
Russland unter Putin: Lebensqualität verdreifacht – Auslandsverschuldung um 75 Prozent gesunken
Zu einer Norm, in der wir zwar immer wieder dazu verdammt sind, das Recht auf Souveränität zu verteidigen, überhaupt mit der Waffe in der Hand zu existieren, aber diese Aufgabe des Überlebens genauso wie viele andere Probleme auch, die uns endlos aufgetürmt werden, erfolgreich in einem planmäßigen Modus gelöst wird. Sprich, in einem Betriebsmodus, der dem Land eben nicht abverlangt, jedwedes Problem wie eine feindliche Stellung zu stürmen, mit brutaler Repression und enormen Opfern. Das Land lebt einfach, es entwickelt sich, verändert sich zum Besseren, wobei sich das Volk an seine Verteidiger von einst erinnert und die heutigen Verteidiger unterstützt, die durch ihren Mut an der Front diese Normalität überhaupt möglich machen. Und eben diese Aufgabe, Russland zur historischen Norm zurückzuführen, nimmt Wladimir Putin jetzt wahr. Neben anderen Zielen.
Das Land hat in 23 Jahren unter seiner Führung einen wirklich langen Weg zurückgelegt, keine Frage. Recht haben jedoch diejenigen, die darauf hinweisen, dass das wichtigste Ergebnis der Regierungszeit eines Staatsmannes nicht so sehr allein die Größe seiner Errungenschaften ist, sondern deren Standfestigkeit, Beständigkeit und die Fähigkeit, sich aus eigener Kraft weiterzuentwickeln. Genau diesen Zustand herbeizuführen ist das Ziel des russischen Präsidenten.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Irina Alksnis ist eine russische Politologin und Publizistin. Sie stammt aus einer prominenten lettisch-sowjetischen Politikerdynastie ab.
Source