Meinung Die Wahrheit ist auf Russlands Seite
Die bereits erwähnten über 200.000 Opfer übersteigen die Zahl all derer, die bei allen polnischen Aufständen von 1794 bis 1863 ums Leben kamen. Es handelt sich um mehr Tote als beim Atombombenabwurf auf Hiroshima. Pro Tag des Aufstandes in Warschau starben mehr Menschen, als es am 11. September 2001 in New York Opfer gab. Dieser Vergleich wurde erstmals vom britischen Historiker Norman Davies – einem Experten für polnische Geschichte – vorgenommen.
Systemische Beurteilung – Beurteilung von Individuen
Die einzelnen, damals kämpfenden Soldaten sind Helden. Das steht vollkommen außer Frage – auch laut Sykulski. Sie erfüllten die Befehle, die von oben kamen, gewissenhaft und unter schwersten, unmenschlichen Bedingungen. Außerdem war das Sentiment unter den Aufständischen der Heimatarmee enorm groß – darunter viele Studenten und andere Gruppen, die vor dem Krieg nicht an Krieg dachten –, dem deutschen Besatzer Gegenwehr zu bieten. Auf eine solche Gelegenheit warteten diese Menschen seit dem Ende der letzten Schlacht am 6. Oktober 1939, die den erfolgreichen Abschluss des Überfalls auf Polen durch die deutschen Nationalsozialisten markierte.
An der in der polnischen Öffentlichkeit populär gewordenen Art und Weise, des Warschauer Aufstandes zu gedenken, übt Sykulski folgende Kritik:
“Seit etwa einem Dutzend Jahren haben wir es in unserem Land mit einem eigentümlichen, unreflektierten Kult um den Warschauer Aufstand zu tun. Schlimmer noch, es ist ein institutionalisierter Kult. An die Stelle des Nachdenkens und des Nachdenkens mit Tiefgang, auch – oder vielleicht vor allem – des politischen Nachdenkens, ist emotionale und sentimentale Propaganda getreten. Unter dem Slogan ‘Überlassen wir die Bewertungen den Historikern’ herrschen kommerzielle Produkte der billigen Massenkultur in Form von ‘Gadgets vom Aufstand’ vor. Manchmal hat man den Eindruck, dass all diese T-Shirts, Tassen, Schlüsselanhänger und Anstecknadeln, die zu Hip-Hop-Melodien verkauft werden, nicht nur eine massenkulturelle Ergänzung zu jedem Jahrestag sind, sondern leicht zu einem billigen Ersatz für eine seriöse Debatte werden. Im Übrigen sollte man sich die Frage stellen, ob die Jahrestage unserer nationalen Katastrophen so pompös und feierlich begangen werden sollten, oder eher still und reflektiert?”
Indem Sykulski auf das Recht und die Pflicht einer jeden Nation, frühere Fehler und Niederlagen gründlich zu erforschen und aufzuarbeiten, hinweist, lamentiert er die Bekämpfung eines solchen Diskurses im heutigen Polen:
“Wir haben es hier mit einer Situation zu tun, in der sich einige politische und intellektuelle Kreise nicht nur die Erinnerung an diese Ereignisse aneignen, sondern auch Andersdenkenden einen moralischen Maulkorb verpassen wollen. Jeder, der versucht, im öffentlichen Raum eine Debatte über den politischen Sinn dieses Aufstandes anzustoßen, wird sofort beschuldigt, ‘dem Andenken an den Aufstand zu schaden’ oder gar ‘den Sinn des heroischen Aufbegehrens zu untergraben’.”
Wenn man beobachtet, wie die Eliten Polens heute so willig und tollkühn eine vollkommen unnötige militärische Auseinandersetzung mit Russland ersuchen – und die eigene Zivilbevölkerung in akute Gefahr bringen –, erscheint das Opfer all der Warschauer Zivilisten und all der Soldaten der Heimatarmee von damals wahrlich umsonst. Sofern es nicht schon damals umsonst war. Der Autor – als gebürtiger Pole – versteht durchaus den “patriotischen Impuls” und das verträumte Prinzip des Bestehens auf Sinnhaftigkeit des Aufstandes, die von der PiS-Elite so effektiv ausgeschlachtet und instrumentalisiert werden und welche bis heute als Rechtfertigungsdogma herhalten.
Letztendlich ist es ein perfides Spiel mit Emotionen, die sehr tief verankert sind. Soll dieses Element der polnischen Nationalpsyche den meisten Beobachtern – Skeptikern und Sympathisanten zugleich – ein Rätsel bleiben, so ist es am konkreten Beispiel des Warschauer Aufstandes an den romantisierten Höhepunkt gelangt. Durch diesen drängt sich retrospektiv doch die unangenehme Forderung nach einer realen, pragmatischen Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Zumal die oft von den Befürwortern genannte “unilaterale Unterstützung” durch die damalige Warschauer Zivilbevölkerung für einen solchen Aufstand sehr schwer zu quantifizieren ist. Immerhin gab es kein Referendum, kein Plebiszit, das die Entscheidung der Heimatarmee im Vorhinein legitimiert hätte.
Die heute in Polen bekannte geschichtliche Ratio lautet, dass man die Nazis bezwingen und aus der eigenen Hauptstadt verjagen wollte, bevor die Rote Armee von Osten her einmarschiert. So hätte man die Sowjets in einer “befreiten polnischen Hauptstadt” als Ebenbürtige empfangen können, statt als sozialistische Befreier vom deutschen Faschismus. Der Lauf der Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg wäre ein anderer gewesen – ein vorteilhafterer für das Nachkriegspolen. So die Begründung vieler westlicher und polnischer Historiker. Erneut – dass dieser Gang der Ereignisse nur mit einer, wenn überhaupt, extrem flüchtigen Wahrscheinlichkeit behaftet war, zeigt folgende Parallele:
Die Tschechen haben während des gesamten Zweiten Weltkrieges (außer wenige Tage vor Kriegsende) seit ihrer Annexion durch die Deutschen im Jahr 1938 keinen einzigen größeren Aufstand gegen die Nazis vollzogen. Sie waren – wie die Volksrepublik Polen – in der Nachkriegszeit auch Teil des Warschauer Vertrages. Die tschechische Führung von damals ermöglichte dem eigenen Volk eine geradezu unversehrte, bis heute wunderschön erhaltene Hauptstadt. Tschechien wurde außerdem zeitgleich mit Polen im Jahr 1999 in die NATO gesogen und trat 2004 synchron mit den Polen der Europäischen Union bei, deren Diktate sie heute genießen dürfen.
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Es sei unbedingt erwähnt, dass die Tschechen in ihrem viertägigen “Prager Aufstand” (Ende: 8. Mai 1945) sogar die Rote Armee in einem “befreiten Prag” empfangen konnten, was den Polen mit Warschau tragischerweise im Jahr zuvor verwehrt blieb – an der späteren tschechoslowakischen Zugehörigkeit zum sowjetischen Einflussraum hat es jedoch gar nichts geändert. In einer solchen vergleichenden Rückschau erscheint das große, verschwenderische, zusätzliche Opfer, das 1944 – im fast gänzlich von den Deutschen zertrümmerten Warschau – durch die polnischen Entscheider gebracht wurde, sinnentfremdet und erschreckend unnötig.
Im Hinblick auf die heutigen, hypothetischen Prognosen eines polnischen Kriegseintritts gegen Russland unter einer (2023 erneut durch das Volk legitimierten?) PiS-Führung rückt die Erinnerung an all die unnötig getöteten polnischen Menschen von 1944 in eine tollkühne Schändung ihres Andenkens.
Das letzte Wort gilt dem hier vorgestellten Historiker Sykulski:
“Ein gesondertes Thema ist der Versuch einiger intellektueller Kreise, ein Bild des ‘siegreichen Aufstandes’ zu entwerfen. ‘Und zwar nicht nur moralisch, sondern auch materiell und politisch’, wie einer der führenden Mythenbildner dieses Aufstandes schrieb. Das ist ein gefährliches Verfahren, die Flucht aus der realen Welt, das Ersetzen von Tatsachen durch Simulakren. Verdrehte philosophische Argumente, Appelle an kollektive Emotionen, das Spiel mit nationalen Stimmungen verwischen allmählich die Grenze zwischen der realen Welt und ihren Darstellungen. Fantasie und Mythos werden zu realen Gebilden. An diesem Punkt wird jede ehrliche Debatte hinfällig. Die Mythologisierung des kollektiven Gedächtnisses, die sich vor unseren Augen abspielt, ersetzt die Notwendigkeit einer nationalen Reflexion über die eigene Vergangenheit, die für die richtigen Entscheidungen in der Zukunft unerlässlich ist.”
Der durch die in Polen aktiven, parteiübergreifenden NATO-Medien als “Russen-Versteher” und “Kollaborateur” denunzierte Dr. Sykulski leistet seinen Beitrag im Hinblick auf die “Zukunft Polens” dahingehend, dass er Märsche in Warschau organisiert, die gegen eine polnische Teilnahme am Krieg in der Ukraine und gegen die Unterstützung des faschistischen Kiewer Regimes sind – während gleichzeitig ein realpolitisch fundierter Frieden mit Russland angestrebt wird.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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