© Bibliothèque nationale de France, Public domain, via Wikimedia Commons Die Schlacht von Solferino 1859. Zeitgenössische Darstellung von A. Adam.
Von Dagmar Henn
Wir haben schon mehrmals darüber berichtet, wie in Deutschland gegen Vereine und Gruppen vorgegangen wird, die humanitäre Hilfe im Donbass leisten. Aber das ist nur die halbe Geschichte. Um ganz zu sehen, wie hemmungslos der Gedanke des Humanitären selbst geopfert wird, muss man auch die andere Seite betrachten, die Erzählung über solche Vereine und Gruppen, die aus Sicht der Bundesregierung die “richtige” Seite unterstützen. Die Tagesschau berichtete gerade erst über einen solchen Verein:
“Während die Kämpfe nur wenige Wohnblöcke entfernt ununterbrochen weitergehen, eilen Ärzte und Organisatoren in den Bunker. Patrick Münz von den Hilfsorganisationen ‘Leave No One Behind’ und ‘Base UA’ war schon etliche Male hier in Bachmut. Er trägt Schutzhelm und Weste und erklärt in ruhigem Ton: ‘Man hört hier die Artillerie der ukrainischen und russischen Truppen. Im Osten wird heftig gekämpft.'”
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Natürlich erfolgt der Einstieg heroisch, aber subtil. Man muss in den Bunker flüchten, aber der Held bleibt ruhig, wie es bei Helden so sein soll. Schwer, zu überprüfen, ob das stimmt. Freunde haben mir aber erzählt, dass es bei ständigem und nahem Beschuss eine körperliche Reaktion gibt, dass der Puls entweder rast oder ins Bodenlose fällt, und sich diese Reaktion jeder Einflussnahme entzieht.
Ich schätze mal, das sind Wirkungen tiefer Frequenzen, Schallwellen unterhalb des hörbaren Spektrums. Und das waren nicht Aussagen von Menschen, die solche Situationen noch nie erlebt hatten. Aber es mag sein, dass die oben geschilderte Szene schlicht weiter weg vom Geschehen war.
“Es rumst besonders laut. ‘Das war jetzt ein Einschlag’, sagt Münz trocken und geht zügig weiter. Er kann am Klang unterscheiden, wer von wo schießt. Das sei in einem Ort wie Bachmut überlebenswichtig.”
Ist er nicht tapfer? Tatsächlich erzählen die Geräusche noch wesentlich mehr. Ein kleiner Mörser klingt anders als eine Haubitze, oder gar ein Raketenwerfer. Auch das ist keine besondere Kunst, das merkt man schon, wenn man ein paar Dutzend Videos gesehen hat. Und selbstverständlich ist es wichtig, zu erkennen, ob gerade etwas auf einen zufliegt oder eher von einem weg. Es gab mal diese tolle Aufnahme der BBC am Donezker Flughafen, bei der der BBC- Reporter gerade dabei war, zu erzählen, dass aus dem Flughafen gefeuert wird, als einige Meter entfernt von ihm eine Granate einschlug, die auf den Flughafen abgefeuert wurde; in etwa die kürzeste Darstellung zur Verlässlichkeit dieser Aussagen, die die vergangenen Jahre hervorgebracht haben.
“Münz und das Team von ‘Leave No One Behind’ fahren fast täglich hierher, um Menschen in Sicherheit zu bringen, Medikamente zu verteilen oder Kranke zu transportieren. (…) In Bachmut gibt es noch eine Poliklinik, aber kaum Ärzte.”
Beim Lesen dieses Textes stellt sich vor allem eine Frage: Unterscheidet sich das Elend dieser Menschen irgendwie von dem auf der anderen Seite der Front? Und warum wird in keinem der Berichte über “LeaveNoOneBehind” oder “STELP” die Frage gestellt, die jeder Hilfsorganisation, die Hilfe in den Donbass liefert, unvermeidlich gestellt wird – ob sie sich denn auch um Opfer auf der anderen Seite kümmerten?
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Patrick Münz, der Held dieser Geschichte, ist auch andernorts unterwegs gewesen, und liefert das Gesicht für die beteiligten Organisationen. “LeaveNoOneBehind” ist ursprünglich einer dieser Seenotrettungsvereine, eine Unter- oder Nebenorganisation von STELP, unter der wiederum ein Verein namens Civilfleet-Support e.V. steht; ein ganzes Geflecht aus Vereinen und gemeinnützigen GmbHs, in denen auch Patrick Münz als Geschäftsführer auftaucht, dessen Mittelpunkt aber STELP bildet, ein Akronym aus “Stuttgart helps” – ein Verein, den Serkan Eren gegründet hat.
Keiner dieser Vereine erteilt Auskünfte über Großspenden, obwohl es sie geben muss: Porsche beispielsweise kofinanziert ein gemeinnütziges Café, das auch zum Netz dieser Hilfsorganisationen gehört. STELP-Mitgründer Steffen Schuldis hat auch schon an digitalen Wahlhilfen gearbeitet und wird bei dem entsprechenden Projekt der Stuttgarter Medienakademie so beschrieben:
“Steffen macht beruflich Innovation.”
Das sieht nach einer ganz groß aufgezogenen Sache aus. Die Webseiten sind grundsätzlich hochprofessionell, und alle Mittel einschließlich Merchandising werden genutzt. Das soll jetzt nicht die humanitäre Absicht absprechen; es ist nur ein Zeichen dafür, dass da viel Geld fließt. Definitiv mehr Geld als bei der Donbasshilfe, bei der sich die deutschen Medien nach Kräften mühen, Spender abzuschrecken.
Kleines Beispiel gefällig? Der Bericht des MDR vom vergangenen September über den Verein “Zukunft Donbass”:
“Das Helios Klinikum Meiningen etwa hatte im Februar ‘115 noch voll funktionsfähige Krankenhausbetten’ gespendet. Das Uniklinikum Jena bestätigte auf MDR-Anfrage, in den Jahren 2016, 2017 und 2019 ‘Mobiliar und andere Verbrauchsgüter’ abgegeben zu haben. Beide Häuser teilen mit, dass aktuell keine weiteren Spenden an den Verein vorgesehen seien. (…) Die Spendenplattform ‘Betterplace’, die ihren Zahlungsverkehr über den US-Dienstleister Paypal abwickelt, hat dem Verein inzwischen mit Verweis auf das von den USA verhängte Russland-Embargo gekündigt.”
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So klingt das, wenn humanitäre Hilfe sabotiert werden soll. Das Thüringer Amt für Verfassungsschutz durfte noch drauflegen, dass eine “etwaige Lieferung von Gütern aus Deutschland in die Ostukraine zur Unterstützung pro-russischer Stellen durch russische staatliche oder staatsnahe Stellen propagandistisch ausgenutzt werden” könne.
“Sono tutti fratelli”, sie sind alle Brüder, war einst die Losung, unter der die Geschichte humanitärer Organisationen mit der Versorgung Verwundeter beider Seiten nach der Schlacht von Solferino 1859 begann. Unterstützung für die eine oder die andere Seite gab es davor auch. Aber die Menschen außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen als Gleiche zu behandeln, das war der entscheidende zivilisatorische Fortschritt, der sich zuerst in der Entstehung des Roten Kreuzes manifestierte. Und es war viele Jahrzehnte lang möglich, aus Deutschland heraus auch Menschen zu helfen, die in einem Konflikt, den die USA oder die NATO führten, auf der anderen Seite standen. In Nordvietnam beispielsweise. Oder Nicaragua.
Natürlich gab es immer auch das Element der Instrumentalisierung. Bei den Rettungseinsätzen für die vietnamesischen “Boat-People” – überwiegend im Stich gelassene US-Kollaborateure – ging es auch darum, die Sympathien zu wenden, die gerade bei der Jugend aufseiten der Vietnamesen und nicht der USA gelegen hatten. Übrigens ist einer der vielen Vereine aus dem STELP-Netzwerk auch mit der Evakuierung afghanischer Kollaborateure befasst.
Dennoch, es war lange unvorstellbar, humanitäre Arbeit in Zweifel zu ziehen. Die Donbass-Hilfe wurde allerdings die ganzen Jahre über immer wieder einmal ins Visier genommen; da wurden Zahlungen blockiert, Konten gekündigt. Aber inzwischen hat das Vorgehen eine ganz andere Wucht, wie an der Streichung der Gemeinnützigkeit für Friedensbrücke-Kriegsopferhilfe e.V. zu sehen war. Seither erscheinen immer wieder Artikel, die diese Arbeit am liebsten gleich zur Spionage erklärt sehen wollen.
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Wohlgemerkt – auch die Zivilbevölkerung in Frontnähe auf der anderen Seite hat oft keinen Zugang zu sauberem Wasser, keinen Strom, keine medizinische Versorgung und immer wieder auch keine Möglichkeit, an Lebensmittel zu kommen. Auch auf der anderen Seite geraten Helfer immer wieder unter Beschuss. Oft sogar gezielt. Es ist nicht weniger nötig, diesen Menschen zu helfen, es ist nicht weniger mutig. Aber niemals würde heutzutage die Tagesschau im gleichen Tonfall darüber berichten, wie über Patrick Münz.
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“Mit einem 20-Tonnen-LKW wurden Wasser, Mehl und Brot von Moskau ins Kriegsgebiet nach Donezk und Mariupol gebracht. Die Lebensmittel kommen aber hauptsächlich den dort lebenden Russen und pro-russischen Ukrainern zugute.”
Sono tutti fratelli. Die oben erwähnte Schilderung der Wirkung von dauerhaftem Beschuss stammt von Liane Kilinc, der Vorsitzenden von Friedensbrücke, aus Gesprächen, die wir führten, als sie im letzten Herbst eine Lieferung nach Donezk begleitete. Kilinc und Münz tun das Gleiche, auch wenn hinter Münz wesentlich mehr Geld stecken dürfte. Im einen Fall ist es eine Heldentat, die mit einem hochemotionalen Bericht in der Tagesschau gewürdigt wird. Im andern Fall ein zweifelhaftes Verhalten, an dessen Strafwürdigkeit noch gearbeitet wird.
Die Genfer Konventionen sind in dieser Hinsicht übrigens eindeutig. Eine humanitäre Versorgung darf nicht behindert werden. Gleich, wo und gleich, von wem. Das erste Zeichen dafür, dass diese Bestimmung dabei ist, ihre Wirkung zu verlieren, war schon das Verhalten der ukrainischen und der gesamten westlichen Seite im Sommer 2014. Als Donezk fast eingeschlossen war und in der Stadt Hunger herrschte, und ein russischer Hilfskonvoi, der tatsächlich versuchte, über ukrainisch kontrollierte Grenzübergänge zu kommen, nicht durchgelassen wurde. Es gab keinerlei Proteste aus westlichen Staaten gegen diesen klaren Verstoß gegen die Genfer Konventionen; im Gegenteil, der Konvoi wurde noch zum besonderen russischen Schurkenstreich erklärt.
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Das liegt über acht Jahre zurück. Dass die Seite von “LeaveNoOneBehind” ganz in Blau und Gelb gestaltet ist, stört niemanden. Vereinen, die Donbasshilfe leisten, wird es bereits angekreidet, wenn im Donbass selbst eine Fahne ins Bild kommt.
Das Schlimmste daran ist nicht die Hilfe, die den Menschen im Donbass entgeht, oder in Syrien, oder im Jemen. Das Schlimmste ist, mit welcher Bereitwilligkeit die Grundsätze inzwischen geopfert wurden, die im 19. Jahrhundert einmal entstanden und die wirklich ein Fortschritt für die Menschheit waren. Sono tutti fratelli – sie sind alle Brüder.
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