Analyse Die EU-Sanktionen werden bald die Wirtschaft erwürgen – die Frage ist nur: Wessen Wirtschaft?
Der als Sachverständiger Geladene erläuterte, es treffe “quasi ausnahmslos Menschen in Krisensituationen”. Fast alle deshalb Inhaftierten seien arm, viele hätten schwerwiegende psychische Probleme oder körperliche Leiden. Gefängnisaufenthalte stürzten dann die Betroffenen zumeist noch tiefer in die Not. Sie verlören ihre Wohnungen, Therapie- und Arbeitsplätze, manchmal auch ihre Kinder. Sie würden in der Haft “massiv entsozialisiert”, was das Gegenteil von dem sei, was man zu erreichen vorgebe.
Die meisten Inhaftierten, denen Semsrott helfe, seien etwa dreimal ohne Ticket erwischt worden. Dafür hätten ihnen die Gerichte um die 30 Tagessätze Strafe zuzüglich zum Fahrpreisaufschlag von 60 Euro aufgebrummt. Dabei gehe es oft um einen Schaden für die Verkehrsgesellschaften von gerade einmal neun Euro, was das Strafmaß unverhältnismäßig mache. Er kenne einige Betroffene, wo dadurch akute Suizidgefahr bestanden habe.
Semsrott plädierte für das komplette Abschaffen der Strafverfolgung. Allein die Justiz könne dadurch seiner Einschätzung nach mindestens 100 Millionen Euro jährlich sparen. Zum Vergleich: Deutschlandweit wurde der jährliche Schaden durch Schwarzfahren 2018 auf etwa 250 Millionen Euro geschätzt.
“Abgeordnete können auch kostenlos fahren”
Auf Thomaes Einlassungen entgegnete Semsrott, der Vorwurf, wonach er angeblich für völlige Sanktionsfreiheit plädiere, sei ihm bekannt. Doch dies sei falsch.
“Es bleibt ja das erhöhte Beförderungsentgelt. Die Verkehrsbetriebe schicken da schon sehr rabiat Inkasso-Unternehmen hinterher. Nur wer nicht zahlen kann, bei dem ist dann eben nichts zu holen.”
Man müsse grundsätzlich festhalten, so Semsrott weiter, “dass alle Menschen eigentlich ein Ticket kaufen, sich also regelkonform verhalten wollen”. Manche könnten dies aber einfach nicht. Auch Thomaes Vorschlag, dass zu Fuß gehen solle, wer kein Geld hat, sei keine Lösung. Er betonte:
“Es gibt ein Recht auf Mobilität und die Leute müssen auch ganz einfach mal irgendwo hin.”
Vor allem in ländlichen Regionen gebe es keine Sozialtickets. Wer das Geld für den teuren Bus nicht hat, könne nicht einmal mehr zum Arzt, zum Einkaufen oder zum Jobcenter fahren. Außerdem seien sehr oft Obdachlose betroffen, die manchmal durch die Haft aus Drogensucht-Therapien herausgerissen würden. Andere verlören ihre Bleibe. Dann verhandele er mit den Gefängnissen darüber, was nach der Entlassung mit den Leuten passieren soll. Semsrott plädierte für einen kostenlosen Nahverkehr für alle.
“Die Bundestagsabgeordneten haben doch auch eine Netzkarte für die Bahn, mit der sie kostenlos fahren können. Warum dann nicht auch alle anderen?”
Bahnpreise steigen schneller als Einkommen
Die Linksfraktion kritisiert in ihrem Gesetzentwurf zudem, dass Schwarzfahren härter bestraft würde als falsches Parken, das lediglich als Ordnungswidrigkeit geahndet werde. Auch sei ein großer Schaden für die Gesellschaft nicht ersichtlich. Wie alle anderen Gläubiger im Rechtsverkehr müsse es der Staat den Verkehrsbetrieben selbst überlassen, Delikte, durch die ihnen Einnahmen entgehen, auf dem zivilen Rechtsweg zu ahnden.
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Semsrotts Forderung nach einem kostenlosen Nahverkehr wird anderswo schon umgesetzt oder angestrebt, in Luxemburg und Malta beispielsweise sowie auch in verschiedenen Städten Europas, wie die Deutsche Welle vor einem Jahr berichtete. In Deutschland hingegen steigen die Fahrpreise schneller als die Einkommen. Nach Berechnungen des Fahrgastverbands “Pro Bahn” hat sich das Bahnfahren seit der Euroumstellung im Jahr 2002 massiv verteuert. Bis 2020 kletterten demnach die Preise für kurze Strecken sogar auf mehr als das Doppelte, für längere Fahrten stiegen sie um etwa 65 Prozent.
Zum Vergleich: Die Sozialhilfe- und Hartz-IV-Sätze für Alleinstehende stiegen zwischen 2005 und 2020 um lediglich 25 Prozent von 345 auf 432 Euro. Die Nominallöhne, die nicht die gesunkene Kaufkraft einbeziehen, stiegen laut Statistischem Bundesamt zwischen 2008 und 2020 um etwa 28 Prozent, wobei gerade die unteren Einkommen großteils weit weniger zulegten. Und weil alles teurer wird, nicht nur Bus und Bahn, sinkt dabei der Wert der Löhne seit drei Jahren stetig. Die Zahl derer, die sich den Nahverkehr nicht leisten können, wird wohl weiter steigen. Nach dem Willen von FDP-Mann Thomae sollen sie alle zu Fuß gehen, so wie vor 100 Jahren. Fortschritt könnte man sich anders vorstellen.
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