Quelle: AFP © Bulent Clic Die Einwohner von Cherson warten am 17. November auf die Ausgabe von humanitärer Hilfe.
Eine Analyse von Wladislaw Sankin
Nach dem Abzug der russischen Truppen in der Nacht zum 11. November strömten die westlichen Journalisten in die militärisch umkämpfte Stadt Cherson, die Hauptstadt des gleichnamigen Gebiets, das Russland Ende September nach einem Referendum zum Teil seines Territoriums erklärt hatte. Nun beanspruchen beide Länder, Russland und die Ukraine, diese Region für sich. Die Einnahme der Stadt durch die Ukraine bewerten westliche Medien erwartungsgemäß als Befreiung und die Zeit, als die Stadt unter russischer Kontrolle stand, als Okkupation.
Meinung Ukrainisches Jubel-Aufgebot in Cherson
Ihnen zufolge machten die Bilder einiger Hundert jubelnder Einwohner mit ukrainischen Flaggen auf dem Hauptplatz Cherson “weltberühmt”. Doch ihre eigenen Recherchen offenbarten deutlich: Dieser Jubel wird bei Weitem nicht von allen geteilt. Außerdem drängte sich hier und da unfreiwillig Nazi-Symbolik ins Bild. So zeigte Euronews in einem Bericht einen Panzer auf den Straßen der Stadt, über dem eine Fahne mit Reichsadler und schwarzer Sonne wehte, und CNN einen Einwohner, der die “Befreier” mit einem mit Hitlergruß begrüßte. Auch die rot-schwarze Bandera-Flagge mit Totenkopf-Emblem wurde in Cherson stolz präsentiert.
Eine der bekanntesten Zeitungen des US-Establishments, The Washington Post (WP), schrieb am Dienstag gleich in der Überschrift:
“In der Stadt Cherson erschweren Sympathien für Russland die Wiedereingliederung in die Ukraine.”
Nichtsdestotrotz nannten die Autoren Russland in ihrem Artikel eine “Besatzungsmacht”. Doch immer wieder mussten sie einräumen, dass diese “Okkupation” für die Einwohner viele schöne Seiten hatte – von der russischen Rente zusätzlich zu der ukrainischen, der geordneten Verteilung der humanitären Hilfe an alle Bedürftigen bis zu den Bildungsreisen und Kuraufenthalten für Kinder und Familien auf der Krim.
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Aber es gab auch eine dunkle Seite: Den Kampf gegen ukrainische Saboteure, Untergrundkämpfer und sonstige mutmaßliche Helfer der ukrainischen Armee hatten die russischen Sonderdienste offenbar mit brutalen Methoden geführt. Mitte November berichtete die WP über ein Gefängnis, in dem der FSB die Verdächtigten mit Elektroschockern gefoltert haben soll. Die ehemaligen Insassen erzählten von Schüssen und gingen davon aus, dass es im Gefängnis auch Morde gab.
Unerwähnt blieb allerdings der von den ukrainischen Behörden selbst groß angekündigte Terror-Krieg, währenddessen Dutzende prorussische zivile Verwaltungskräfte ermordet wurden. Besonders viele Anschläge gab es ausgerechnet in Cherson. Auch verheerende ukrainische Beschüsse der Stadt mit US-Merfachraketenwerfern vom Typ HIMARS blieben unerwähnt. Bei diesen Angriffen starben zahlreiche Zivilisten. In einem Krieg schaukelt sich die Gewalt leider immer weiter hoch und erfasst am Ende beide Seiten.
Den Leiter einer Klinik für Traumatologie zwang das russische Militär laut WP mit Waffenandrohung einem Soldaten, einen Arm zu amputieren. Zuvor hatte der Mediziner wegen seiner proukrainischen Ansichten jegliche Zusammenarbeit mit den Russen verweigert.
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Diese Geschichte gehört wohl zur Wahrheit eines Krieges, eines Bürgerkrieges. Viele Mitarbeiter hatten auch unter russischer Kontrolle gearbeitet und bekamen von den Russen Gehälter. Der Klinik-Chef wunderte sich, dass sein Nachfolger, der “Kollaborateur”, geblieben sei, um seinen Job zu behalten. Er wolle verhandeln. “Ich habe ihm gesagt, er solle mit dem SBU verhandeln”, sagte der proukrainische Mediziner und bezog sich dabei auf den ukrainischen Geheimdienst.
An den Tagen, an denen die Journalisten in der Stadt waren, waren die SBUler allgegenwärtig. Gemeinsam mit der Staatsanwaltschaft sollen sie entscheiden, ob eine Person verfolgt und bestraft wird oder nicht. Eine Szene aus dem Leben einer College-Leiterin in einem Bericht:
“Während Iwanowka in den Unterlagen stöberte, kam ein ukrainischer Geheimdienstmitarbeiter herein und fragte nach Informationen über die Frau, die sie ersetzt hatte. Iwanowka schlug ihm vor, einen Wachmann namens Wjatscheslaw Maksymow zu befragen, der der Frau nahe stand und ebenfalls weiter gearbeitet hatte.”
“Und nehmen Sie ihm die Schlüssel ab”, sagte sie. Die Bitte eines Reporters, das Verhör zu beobachten, lehnte der Agent ab.
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“Es ist besser, wenn Sie das nicht tun”, sagte er. “Wir sind schon lange nicht mehr zu Hause gewesen, und wenn wir diese Leute konfrontieren, rasten wir manchmal aus.”
Am Ende des Berichts tauchte der Wachmann noch einmal auf. Offenbar war ihm doch nichts passiert. Er rechtfertigte sich, dass die ganze Stadt Zahlungen von den Russen erhalten habe. Er sei aber der Ukraine treu geblieben und ununterbrochen mit dem ukrainischen Fähnchen in seinem Auto gefahren.
Reporter fanden im Hauptquartier der russischen Regierungspartei “Einiges Russland” eine Liste mit Hilfsempfängern und versuchten 30 Menschen von dieser Liste ausfindig zu machen. Sie trafen auf einen 60-jährigen Rentner, der einen russischen Pass bekommen hatte. Das bereue er jetzt. Über die Flucht der Russen sei er verärgert. Und er habe Angst:
“Ich weiß nicht, was passieren wird”, sagte er, während sich seine Frau unruhig hin und her wälzte und ein Nachbar lauschte. “Die Ukrainer könnten mich morgen erschießen.”
Gerüchte über solche Strafaktionen breiteten sich in der Gegend aus. Russische Behörden berichteten letzte Woche von angeblich 39 dokumentierten Fällen. Solche Meldungen lassen sich jedoch schwer unabhängig überprüfen. Gleichzeitig tauchten Bilder einer Gruppe Verhafteter im Netz auf. Gelbe Klebebänder verdecken ihre Augen und ihre Hände sind damit fixiert. Das Ereignis fand offenbar in einer ländlichen Gegend statt. Eine ähnlich bedrückende Situation zeigt ein Kurzvideo, in dem eine Frau verhört wurde. Sie ist verängstigt und muss sich für etwas rechtfertigen.
Auch deutsche Medien berichteten über “Filtrationsmaßnahmen”. Ein T-Online- Reporter war Zeuge, wie Militärpatrouillen in Wohngegenden auf der Suche nach Kollaborateuren von Tür zu Tür gingen.
Screenshot T-Online
Die US-Zeitung zeigte auf, dass die ukrainischen Behörden vor einer großen Aufgabe stehen. Was macht man mit Russland-Sympathisanten, wenn sie zahlreicher als erwartet sind? Über 100.000 Einwohner wurden ins russische Hinterland, vorwiegend auf die Krim und in andere Regionen in Süd-Russland evakuiert. Doch viele Menschen mit “Russland-Affinität” sind geblieben.
“Wie soll der Wiederaufbau ohne die Tausenden von Russland-Sympathisanten erfolgen, die geflohen sind? Und was ist mit denjenigen zu tun, die geblieben sind? Tausende in der Stadt hatten eine ambivalente Haltung gegenüber den Russen, oder sogar eine Affinität zu ihnen.”
Eher beiläufig erwähnte die WP , dass die Stadt Cherson von Katharina der Großen gegründet wurde. Sie vermied es, die berühmte Zarin “russisch” zu nennen. Offenbar setzte sie dieses Allgemeinwissen bei ihren Lesern voraus:
“Cherson, eine von Katharina der Großen gegründete Hafenstadt am Schwarzen Meer, war ein Ort, den Putin assimilieren und nicht vernichten wollte.”
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Es lohnt sich, die kleine Geschichtsstunde an dieser Stelle fortzusetzen. Alles, was die Stadt noch an Wertvollem hat, den Hafen, die Industrie, schöne Gebäude, Geschichte und Kultur, wurde von Russland oder einem russisch-ukrainischen Verbund, der die Sowjet-Union im Wesentlichen auch war, gebaut. Vieles davon war während der ukrainischen Unabhängigkeit zerstört worden oder zum Erliegen gekommen. Nun hatte Russland diese Region wieder für sich beansprucht.
Wer ist denn nach den vergangenen acht Monaten unter russischer Kontrolle, Okkupant und Besatzer? Bedarf es Angst machender “Filtermaßnahmen” durch die Befreier innerhalb einer Bevölkerung, die man eigentlich als die “eigene” betrachtet? Diese Frage dürfte sich jeder unvoreingenommene Leser stellen, selbst nach einem Artikel wie dem der Washington Post , die für sich in Anspruch nimmt, ungeschönt über die Realität in diesem Gebiet berichtet zu haben.
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